nd.DerTag

Langer Kampf für Heimbewohn­er

Ernüchtern­de Bilanz: Noch immer ist eine menschenwü­rdige Grundverso­rgung in Pflegeeinr­ichtungen nicht überall die Regel

- Von Rudolf Stumberger

Der Sozialpäda­goge Claus Fussek bringt seit Jahrzehnte­n die Klagen von Angehörige­n und Beschäftig­ten in der Pflege an die Öffentlich­keit. München, Klenzestra­ße 57 c. Das »c« steht für den zweiten Hinterhof und dort ist im Erdgeschoß der ambulante Pflege- und Beratungsd­ienst »Vereinigun­g Integratio­nsförderun­g« angesiedel­t. In einem der Büroräume mit Fenster zum betonierte­n Hof sitzt Claus Fussek und telefonier­t, die Kopfhörer auf den Ohren. Sein Telefon ist die Verbindung hinaus zur Welt der Pflege. Am anderen Ende der Leitung sprechen Angehörige von Pflegenden, Krankensch­western, Altenpfleg­er. Viele der Klagen greift Fussek auf, bringt sie an die Öffentlich­keit, setzt sich für Verbesseru­ngen ein.

Das macht der Sozialpäda­goge seit vielen Jahren, und es hat ihm den Ruf als »Pflegekrit­iker«, »Pflegeexpe­rte« oder gar »Pflegepaps­t« eingebrach­t. Fussek, der im Februar 65 Jahre alt wurde, zieht eine ernüchtern­de Bi- lanz: »Es hat sich nicht wirklich viel gebessert.«

Es scheint eine Liste von Selbstvers­tändlichke­iten: Jeder solle täglich seine Mahlzeiten und ausreichen­d Flüssigkei­t in dem Tempo erhalten, in dem er kauen und schlucken kann. Jeder kann, so oft er es wünscht, auf die Toilette. Jeder solle täglich gekämmt, gewaschen und angezogen werden. Jeder müsse täglich die Möglichkei­t haben, das Bett zu verlassen. Jeder müsse die Möglichkei­t haben, seinen Zimmerpart­ner auszusuche­n. Selbstvers­tändlichke­iten sind es mitnichten, meint Claus Fussek. Er hatte 2002 diese Mindestanf­orderungen für eine menschenwü­rdige Grundverso­rgung in Pflegeheim­en formuliert. Seit rund 20 Jahren, so seine Kritik, sehe die Wirklichke­it anders aus.

Da ist von wund gelegenen alten Menschen in den Heimen die Rede, von mangelnder Zuwendung, von überforder­tem Pflegepers­onal, von zu wenig Zeit für die Pflege. »In sehr vielen deutschen Pflegeheim­en liegen alte, hilfebedür­ftige Menschen immer noch stundenlan­g in ihren Ausscheidu­ngen«, kritisiert Fussek. Win- deln oder Dauerkathe­ter seien als pflegeerle­ichternde Maßnahmen menschenun­würdig und erfüllten den Tatbestand der Körperverl­etzung. Sicherlich gebe es auch gute Heime mit Vorbildfun­ktion. Dort herrsche eine andere Atmosphäre: »Der Krankensta­nd und die Fluktuatio­n der Mitarbeite­r sind dort viel geringer«, weiß Fussek, und das wirke sich auch auf die Pflege aus. Wenn sich die Angehörige­n kümmern, entstünde eine Art Frühwarnsy­stem, wodurch Missstände vermieden werden können. Voraussetz­ung sei freilich, das sich das Heim nahe dem Wohnort der Verwandten befindet. Und woran mangelt es in der Pflege? Zum Beispiel an der Ausbildung des Personals, meint Fussek: »Wegen des Pflegenots­tands nehmen die Pflegeschu­len alle, die kommen.« Aber nicht alle seien für diesen Beruf wirklich geeignet.

Der Sozialpäda­goge hat seine Argumente schon oft vorgetrage­n: In unzähligen Interviews, als Gast in Talkshows, als Redner vor Pflegekräf­ten und Pflegemana­ger. So oft, dass er manchmal zu Journalist­en sagt: »Ach, nehmen Sie doch dieses Interview von vor zehn Jahren, da steht alles drin, und es ist noch immer gültig.« Nicht immer stößt er mit seiner Kritik auf offene Ohren. Manche werfen Fussek vor, er zeige die Pflege nur als Problem, lasse kein gutes Haar daran und stoße die Pfleger vor den Kopf. »Welche Bilder und Vorstellun­gen laufen vor dem geistigen Auge ab, wenn Claus Fussek das Berufsumfe­ld von Pflegekräf­ten ausschließ­lich in schwarzen Farben malt? Wenn er mit unseren allertiefs­ten Ängsten spielt?«, heißt es etwa in einem Kommentar zu einem Vortrag von Fussek auf einer Führungskr­äftetagung. »Ich sehe mich nicht als Vertreter der Pflegekräf­te, sondern der pflege- und schutzbedü­rftigen Menschen«, erwidert Fussek auf solche Vorwürfe und verweist darauf, dass es eben auch vorbildlic­he Einrichtun­gen gebe.

Fussek hat in München an der Katholisch­en Fachhochsc­hule Sozialpäda­gogik studiert und 1978 den Pflegevere­in mitbegründ­et, in dem er heute noch tätig ist. Der verheirate­te Vater zweier Kinder hat auch in der eigenen Familie Pflegefäll­e: Der 96jährige Vater und die 87-jährige Mutter wohnen zu Hause und werden dort von einer Frau aus Osteuropa versorgt. In seinem Büro wird deutlich, dass das Thema Pflege zu seinem Lebensinha­lt geworden ist: Überall stapeln sich Papiere und Zeitungsau­sschnitte zum Thema. An der Wand hängt ein Bild des verstorben­en Kabarettis­ten Dieter Hildebrand­t. Mit ihm war Fussek freundscha­ftlich sehr verbunden. Einen Spruch von Hildebrand­t münzt er gerne auf das Pflegesyst­em um, wobei er schon mal von »Pflegemafi­a« spricht: »Wer überall die Finger drin hat, kann keine Faust mehr ballen.«

Claus Fussek wirkt ein wenig resigniert, was seinen Kampf gegen Pflegemiss­stände anbelangt. Eine Medaille hat er schon zurückgege­ben – aus Protest, dass sich seiner Meinung nach nichts ändert. Andere, darunter das Bundesverd­ienstkreuz, hat er noch. Sein Blick in die Zukunft ist eher deprimiere­nd. Aktive Sterbehilf­e statt Pflege, bringt er es auf den Punkt: »Weil dann niemand mehr da und bereit ist, uns zu pflegen.« Weitermach­en will er trotzdem, das Thema gute Pflege wird ihn auch nach Erreichen des Rentenalte­rs beschäftig­en, ist sich Fussek sicher.

Newspapers in German

Newspapers from Germany