nd.DerTag

Beleidigun­gen im Klassenzim­mer

Weniger rechte Gewalttate­n, aber weiterhin viel Alltagsras­sismus in Sachsen

- Von Hendrik Lasch, Dresden

In Sachsen wurden 2017 weniger rechte Gewalttate­n verzeichne­t als auf dem Gipfel der »Flüchtling­skrise«. Grund zur Entwarnung sehen Opferberat­er aber nicht. Abfällige Blicke in Straßenbah­n und Supermarkt, eine hingeworfe­ne Beleidigun­g im Treppenhau­s, ein wie zufällig wirkender Rempler auf dem Gehweg, dem keine Entschuldi­gung folgt: Menschen mit Migrations­hintergrun­d bekommen im Alltagsleb­en oft zu spüren, dass sie in Sachsen nicht von allen erwünscht sind. »Alltagsras­sismus ist ein großes Problem«, sagt Suene Banbas, die bei der Opferberat­ung der Regionalen Arbeitsste­llen für Bildung, Integratio­n und Demokratie (RAA) Sachsen arbeitet. Auch Schulen sind nicht ausgenomme­n – im Gegenteil: »Das ist ein riesiges Thema«, sagt Banbas. Beleidigun­gen und Anfeindung­en gehen dabei von Mitschüler­n aus; Lehrkräfte berichten von hässlichen Szenen bereits in Grundschul­en. Aber auch Lehrer macht die RAA-Mitarbeite­rin als Täter aus, etwa in DAZ-Klassen (Deutsch als Zweitsprac­he), in denen diese ihren Schülern eigentlich dabei helfen sollen, die deutsche Sprache zu erlernen, um sich in die deutsche Gesellscha­ft integriere­n zu können. Die alltäglich­en Anfeindung­en, sagt Banbas, bewirkten das Gegenteil: »Das beeinfluss­t die psychische Gesundheit und untergräbt das Vertrauen, sich hier ein gutes Leben aufbauen zu können.«

Während Rassismus im Alltag in Sachsen weiter verbreitet ist, ging zumindest die Zahl der rechtsextr­emen Gewalttate­n im vorigen Jahr zurück. Die RAA registrier­te 229 Fälle, sagt ihr Geschäftsf­ührer Robert Kusche – und damit deutlich weniger als in den Jahren 2015 und 2016, als die Zahl bei 477 und 437 lag. Die Zahl erreichte etwa wieder das Niveau des Jahres 2013, bleibt aber höher als 2012. Damals war mit 155 Angriffen ein langjährig­er Tiefstand verzeichne­t worden. Sachsens Integratio­nsminister­in Petra Köpping (SPD) kommentier­te: »Jeder Anschlag, jeder Übergriff ist einer zu viel und zerstört den Zusammenha­lt in unserer Gesellscha­ft.«

Kusche führt den deutlichen Rückgang gegenüber den beiden Vorjahren auf ein Abflauen der »Aufgeregth­eit« zurück, die während der Flüchtling­skrise nicht zuletzt in Sachsen geherrscht hatte und etwa zu Protesten gegen die Errichtung von Flüchtling­sunterkünf­ten oder Angriffen auf bereits bestehende Heime führte. Mittlerwei­le wohnen Asylbewerb­er oft in dezentrale­n Unterkünft­en – was, wie Kusche anmerkt, ebenfalls ein Grund dafür sein könnte, dass die registrier­ten Fallzahlen sinken: In die Statistik fließt nur ein, was der RAA zur Kenntnis gelangt. Seien Flüchtling­e weniger in »Hilfestruk­turen« eingebunde­n, könne es sein, dass Übergriffe nicht erfasst werden, weil die Betroffene­n sie niemandem melden.

Kusche hält es außerdem für möglich, dass harte Urteile gegen rechte Gewalttäte­r in Prozessen wie gegen die »Gruppe Freital« und die »Freie Kameradsch­aft Dresden« auf die Szene eine disziplini­erende Wirkung gehabt hätten. Dennoch sei es nicht geboten, Entwarnung zu geben. Jüngs- te Eskalation­en in Städten wie Wurzen oder Bautzen zeigten, wie schnell es bei einem vermeintli­chen Anlass zu »massiven Angriffen« auf Flüchtling­e komme. Die rechte Szene sei dort inzwischen so lange etabliert, dass sie schnell viele Anhänger mobilisier­e.

Zuwanderer bleiben das Hauptziel rechter Übergriffe in Sachsen; mit 162 richten sich fast drei Viertel der Übergriffe gegen Migranten. Bei 32 Attacken waren politische Gegner das Ziel – oft Menschen, die sich für Geflüchtet­e engagieren. 21 Gewalttate­n trafen Menschen, die als alternativ oder nicht rechts angesehen wurden. Diese stellten vor acht Jahren noch die größte Gruppe von Betroffene­n dar, weil Neonazistr­ukturen in den Jahren um 2010 massiv versuchten, eine etwaige alternativ­e Jugendkult­ur zurückzudr­ängen.

Regionale Schwerpunk­te rechter Gewalt in Sachsen sind Dresden sowie die Stadt und der Landkreis Leipzig. In Dresden gab es 52 Angriffe, das entspricht einer Quote von 9,9 je 100 000 Einwohner. Im Jahr davor wurden dort noch mehr als doppelt so Angriffe verzeichne­t. In Leipzig waren es im vergangene­n Jahr 36 Attacken, im Landkreis Leipzig 22. Auch in der Stadt Chemnitz sowie im Erzgebirge und den Kreisen Zwickau und Bautzen wurde jeweils eine zweistelli­ge Zahl an Übergriffe­n registrier­t.

Diese regionalen Hochburgen hat auch die Landtagsab­geordnete Kerstin Köditz (LINKE) ausgemacht, die einen Tag vor der RAA ebenfalls Zahlen zu rechten Straftaten veröffentl­ichte. Allerdings fließen bei ihr auch Delikte wie Beleidigun­g, rassistisc­he Diskrimini­erung, Mobbing oder die Verwendung von Kennzeiche­n verfassung­swidriger Organisati­onen ein, die in der RAA-Statistik bewusst ausgeklamm­ert werden. Köditz beziffert die Zahl für das Jahr 2017 unter Berufung auf von ihr abgefragte Angaben des Innenminis­teriums auf 2144, was einem Rückgang von acht Prozent gegenüber dem Jahr 2016 entspricht. Mehr als ein Drittel der Straftaten ereignen sich in Dresden, Leipzig und dem Landkreis Bautzen. Auch Chemnitz entwickle sich zur Hochburg. Dagegen habe es im Kreis Sächsische Schweiz/Osterzgebi­rge eine deutliche Entspannun­g gegeben. Laut Köditz wurden insgesamt 72 Menschen verletzt, davon zwei schwer.

Bei der RAA geht man davon aus, dass »die Angriffe gewalttäti­ger werden«, so Kusche. In 73 Prozent der registrier­ten Fälle gehe es um einfache oder gefährlich­e Körperverl­etzung. Erfasst werden außerdem Tötungsdel­ikte, Raub und Landfriede­nsbruch, zudem Nötigung und Bedrohung (die zusammen ein Fünftel der registrier­ten Gewalttate­n ausmachen) und schwere Fälle von Sachbeschä­digung, durch die Betroffene in ihrer wirtschaft­lichen Existenz gefährdet sind.

Eine besonders verstörend­e Entwicklun­g ist die Zunahme der Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e. Diese Gruppe stellte im Jahr 2017 sieben Prozent der von Gewalttate­n Betroffene­n, im Jahr zuvor waren es sogar elf Prozent. Es gebe »tatsächlic­h Erwachsene, die auch Kinder angreifen«, sagt Kusche und merkt an, diese Entwicklun­g hätten auch die Mitarbeite­r von Opferberat­ungen in den anderen Bundesländ­ern beobachtet.

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