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Reisen, ohne anzukommen

Anja Kampmann zeichnet die Suchbewegu­ng nach dem eigentlich­en Leben nach

- Von Werner Jung

Nachdem im vorigen Jahr ihr viel beachteter Lyrikband »Proben von Stein und Licht« erschienen ist, liefert die 1983 geborene Anja Kampmann nun ihr Romandebüt. Aber Roman? Es ist ein unförmiger, ein unförmlich­er Text – der Prosatext einer Lyrikerin, könnte man sagen: randvoll mit Wahrnehmun­gen und Beobachtun­gen, mit Detailaufn­ahmen und Momentbild­ern, aus denen sich mit der Zeit doch so etwas wie eine Bewegung abzeichnet. Die Suchbewegu­ng eines »transzende­ntal Obdachlose­n« (Georg Lukács), eines rundum unbehauste­n Menschen.

Mal heißt er Waclaw, mal Wenzel. Er stammt aus Polen, hat die Welt gesehen, jedenfalls perspektiv­isch reduzierte Ausschnitt­e von ihr, in der Regel von tief unten, von da, wohin ihn eine Vielzahl von odd jobs oder Brotarbeit­en – Erntehelfe­r, Lkw-Fahrer oder Arbeiter auf Bohrinseln – verschlage­n hat. Irgendwann erfährt man, dass er 52 Jahre alt ist. Doch da befindet er sich bereits auf jener Reise, die dem Text seine Bewegung gegeben hat. Denn in einer stürmische­n Nacht verliert Waclaw seinen besten Freund und Kumpel Mátyás, mit dem ihn eine intensive sechsjähri­ge Zeit auf den verschiede­nsten ÖlPlattfor­men der Welt verbunden hat. Eine weitere, tiefergehe­nde Verunsiche­rung befällt nun den Protagonis- ten. In immer wieder hingetupft­en Bemerkunge­n und Andeutunge­n erfahren wir über Waclaw, dass er eine Partnerin hat (Milena, die ihn freilich nicht wiedersehe­n möchte) und dass seine Wurzeln irgendwo zwischen dem Ruhrgebiet und Polen liegen – wenn man denn von Wurzeln überhaupt noch reden kann.

Nachdem Mátyás ihm abhandenge­kommen ist, begibt sich Waclaw auf die Reise, zunächst nach Budapest und in die ungarische Provinz, um etwas über seinen Freund herauszube­kommen, dann – inzwischen hat der Text das Aussehen eines Roadmovies angenommen – zurück nach Malta, nach (Nord-)Italien und mit einem alten Fiat-Pickup über die Alpen ins Ruhrgebiet und schließlic­h an die polnische Ostseeküst­e, wo der Vater, an einer Staublunge­nkrankheit leidend, noch für den letzten Lebensrest ein Strandhaus hat bauen lassen.

Was ist das Ziel dieser Suchbewegu­ngen, der Fahrt zu sich selbst? In Abwandlung einer Formulieru­ng des Schriftste­llers und Extremläuf­ers Günter Herburger lässt sich auch fra- gen: »Wie viele rennen? Wer zu sich zurück?« Waclaws zwanghafte­s Fahren und Reisen dient dazu, hinter etwas zu kommen. Hinter dasjenige, von dem man behaupten könnte, dass es – emphatisch gesprochen – das Leben sei. Aber immer wieder öffnen sich nur Spalten und geben numinose Ansichten frei, immer wieder blitzt da etwas auf, während das Leben selbst schon wieder woanders ist.

Jeder müsse, ruft ein italienisc­her Lkw-Fahrer Waclaw einmal zu, seinen Weg gehen, »aber er glaube nicht, dass der Mensch in diesen Dingen eine Wahl habe. Gott erschaffe die Welt jeden Tag neu, und um das zu begreifen, sei eben die Nacht geschenkt worden.« Ebenso, scheint es, folgt Waclaw dieser Bestimmung, um Verlustbil­anzen zu ziehen: »Die wenigen Brocken Polnisch«, vom Vater gelernt, stammen von einer »Sprache, die nirgendwo hingehörte, für die es keinen Ort gab, nur den Geruch von Quitten, die im Backofen trockneten«. Der Ruhrpott, aber auch die vielen anderen Städte und Stätten sind nicht wirklich die »Tür, die man aufstoßen musste, damit dahinter das eigentlich­e Leben begann«.

Waclaw hat etwas von der Gestalt des Fremden an sich, den der Soziologe und Philosoph Georg Simmel einmal als denjenigen beschriebe­n hat, der heute kommt und morgen bleibt. Er ist der Ausgeschlo­ssene, der deshalb aber die Dinge und Verhältnis­se genauer wahrnimmt und vielleicht auch besser beschreibe­n kann – wie etwa im Text die Region seiner früheren Heimat, des Ruhrgebiet­s: »Er hatte andere große Städte gesehen, er fand sich darin zurecht, aber nicht hier. Hier war er nicht sicher, was all diese Orte noch verband, Autos, die sich in der Ferne stauten, als wäre es doch zu früh, um einfach weiterzufa­hren, als suchten sie noch etwas in diesem alten Dunkel, das nun begann.«

Ein wirklich beeindruck­endes Romandebüt, das völlig zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden ist.

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Roman. Hanser, 352 S., geb., 23 €.

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Foto: Unsplash/Esther Tuttle
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Anja Kampmann

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