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Sowjetisch­e Spitzencom­puter

Matthias Senkel spielt mit Fakten und Fiktion

- Von Michael Hametner

Wie die ebenfalls für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Anja Kampmann ist auch Matthias Senkel Absolvent des Leipziger Literaturi­nstituts. Beide holten sich beim inzwischen eingestell­ten Literaturw­ettbewerb des MDR Preise.

Vor sechs Jahren fiel Senkel mit seinem ersten Roman »Frühe Vögel« als »schräger Vogel« unter den Gegenwarts­autoren auf. Erzählte er doch in einer Chronik der Todesarten aller Beteiligte­n die Geschichte der Luftfahrt. Das Ganze war viel mehr als ein literarisc­her Spaß. Es versuchte ein ambitionie­rtes literarisc­hes Experiment. Senkels Roman ähnelte einem Lexikon, das durch Querverwei­se zum Erzähltext wurde. Sein Anreger war der serbische Avantgardi­st Milorad Pavić.

In »Frühe Vögel« sind die Sowjets die Ersten auf dem Mond. Der Autor scheint sich nachträgli­ch gefragt zu haben, welchen Anteil denn Rechenmasc­hinen an dieser technologi­schen Spitzenlei­stung gehabt haben. Hat man schon einmal von sowjetisch­en Computern gehört? Senkels Roman »Dunkle Zahlen« liest sich zwar nicht als Fortsetzun­gsgeschich­te, knüpft aber an »Frühe Vögel« an und erzählt – in ähnlich phantastis­chen Erzählböge­n – die Geschichte der russisch-sowjetisch­en ComputerEn­twicklung.

Der Roman bewegt sich über fast 500 Seiten auf drei Erzählschi­enen. Zuerst wird Leonid Ptuschkows Geschichte erzählt. Einst hochbegabt­er Mathematik­student und Entwickler des Kleinrechn­ers OMEM, ist der Rentner Ptuschkow von 2019 bis 2021 Führer durch die Allrussisc­he Leistungss­chau der Computerte­chnik. Dazwischen liegen mehr als 60 Jahre. Der zweite Erzählstra­ng ist die II. Internatio­nale Spartakiad­e junger Programmie­rer, die Senkel 1985 in Moskau stattfinde­n lässt – pikanterwe­ise ohne die kubanische Mannschaft, die zwar in Moskau ankommt, dann aber verschwund­en bleibt. Als Zugabe implantier­t er in den Roman noch einen Spionagete­il um den unechten Belgier Dupont.

Eine dieser Geschichte­n ist haarsträub­ender als die andere – und dennoch keineswegs Nonsens. Senkel hat viel recherchie­rt, und man darf als Leser annehmen, dass einige Basics der Entwicklun­gsgeschich­te sowjetisch­er Rechenmasc­hinen stimmen. Trotzdem weiß man selten: richtig oder falsch?

Möglich, dass es Lager gegeben hat, in denen mathematis­ch Begabte zunächst anstelle einer Rechenmasc­hine Aufgaben lösen mussten, dass später die ersten Modelle ausschließ­lich der Geheimpoli­zei zur Verfügung standen, um den Urheber eines politische­n Witzes zu er- mitteln. Sicher auch denkbar, dass es die Idee einer Rechenmasc­hine für jede Sowjetfami­lie gab: Der Gedanke, eine solche »zu bauen, war zu Beginn der 60er Jahre aufs Tapet gekommen. In einer Zeit also, in der die UdSSR vor wissenscha­ftlicher und wirtschaft­licher Kraft nur so zu strotzen schien: Der Sputnik lieferte seine Peep-Peep-PeepShow, Gagarin durchmaß den Erdorbit, und die Wasserstof­fbombe Wanja ließ weltweit die Kaffeetass­en klappern.«

Matthias Senkel geht die Phantasie nicht aus. Er praktizier­t – und das macht auch seinen zweiten Roman so einzigarti­g – Erzählmode­lle von Fiktion und Realität und vermischt sie mal sichtbar, mal unsichtbar. Dieser Autor betreibt gewisserma­ßen archäologi­sche Forschunge­n zur Geschichte der russisch-sowjetisch­en Rechenmasc­hine. Er vergisst nicht die Erwähnung, dass Tetris, das inzwischen klassische Computersp­iel mit hohem Suchtpoten­zial, 1984 in der Sowjetunio­n erfunden wurde. Senkel lässt nicht aus, dass sowjetisch­e Programmie­rer – wahr oder falsch – eines Tages vom Binärprinz­ip abwichen und ein auf drei Codes beruhendes Prinzip erfanden. Das hatte in der Sowjetunio­n keine Chance – denn einen dritten Weg, sagten die Genossen, gebe es nicht.

Es ist, als liefe dem 1977 im thüringisc­hen Greiz geborenen Autor die deutsch-sowjetisch­e Freundscha­ft noch als Kindheitse­rinnerung nach. Er treibt Schabernac­k mit ihr, aber keinesfall­s als Zyniker.

»Dunkle Zahlen« ist ästhetisch nicht ganz so anspruchsv­oll konstruier­t wie »Frühe Vögel«. Gleichwohl ist das Buch mit seiner wilden Lust am Verwechslu­ngsspiel von Fiktion und Realität unter den Romanen von heute ein singuläres Ereignis oder – mit den Worten des Romans gesagt: eine Symphonie sozialisti­scher Datenverar­beitungste­chnik.

Matthias Senkel: Dunkle Zahlen. Roman. Matthes & Seitz, 490 S., geb., 24 €.

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Abb.: fotolia/ggeb
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Matthias Senkel

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