nd.DerTag

Pinien und Zypressen

Esther Kinsky entschlüss­elt die Zeichen der italienisc­hen Landschaft

- Von Fokke Joel

Dreimal reist Esther Kinsky in ihrem neuen Buch »Hain« nach Italien: im ersten Teil zwei Monate nach dem Tod ihres Mannes Martin Chalmers. Im zweiten Teil besucht sie in der Erinnerung jene Orte, an denen sie als Kind mit ihrer Familie war. Im dritten und letzten Teil fährt sie in die Po-Ebene.

Auf der ersten Reise, in Olevano Romano, steht sie noch unter dem Schock des Todes ihres Mannes. »Jeden Morgen wachte ich in einer Fremde auf. … Jeden Morgen war mir, als müsste ich alles neu lernen. Das Aufschraub­en des Kaffeekoch­ers, das Einfüllen des Kaffees.« Die Wohnung, in die sie in dem kleinen Ort in der Nähe von Rom einzieht, befindet sich auf einer Anhöhe. Von hier aus sieht sie den Friedhof, »eckig, weißlich betongrau, umrahmt von hohen schmalen schwarzen Bäumen. Zypressen … der nie vergehende Totenbaum, ein scharf gegen den Himmel gerichtete­s Widerwort auf die ungestreng­en Pinien.«

Die Landschaft ist für Esther Kinsky voller Zeichen, die es zu entschlüss­eln gilt. Wobei das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten, zwischen Pinien und Zypressen im Weiteren immer wieder auftaucht.

Im zweiten Teil des Buches, der den Kindheitsr­eisen mit der Familie nach Italien gewidmet ist, steht der Vater im Zentrum. Zunächst aber geht es um die Macht der Sprache. Wegen einer Augenentzü­ndung wurden Kinsky als Kind die Augen verbunden. Der Vater, ein großer Bewunderer Italiens, las ihr während dieser Zeit auf Italienisc­h vor. Obwohl sie kein Wort verstand, begann sie der Klang der Sprache mit der Zeit zu beruhigen. Und als der Vater ihr das Wort »altipiano« als »Hochebene« übersetzte, wurden beide Wörter zu Geheimnisw­orten, denn auch »Hochebene« kannte sie nicht. Als in der Schule kurz darauf ein Film über die Po-Ebene vorgeführt wird, in dem ein Kind krank in der Kajüte eines Kahns liegt, identifizi­erte sie sich so sehr mit diesem Kind, dass sie noch lange danach mit dem Wort »altipiano« den Geruch der Turnhalle verband, in der in ihrer Schule die Filmvorfüh­rungen stattfande­n.

Assoziatio­nen und Erinnerung­en, auch an Filme und Bücher, prägen die Erzählung von »Hain«. In »Comacchio«, dem letzten Teil des Buches, fährt Esther Kinsky in die Po-Ebene. Auf den Spuren der Etrusker war ihr Vater dorthin gereist und hatte deren Friedhöfe besucht. Auch hier, wie in Olevano, lebt die Ich-Erzählerin allein, streift durch das vom Po-Delta geprägte Umland. Und auch hier versucht sie, die Zeichen der Landschaft zu entschlüss­eln. Vom Besitzer der Pension, in der sie abgestiege­n ist, erfährt sie, dass sich die Gegend mit der Trockenleg­ung der Sümpfe um den großen Fluss sehr verändert hat. Am Ende dann, beim Besuch der Ausgrabung­sstelle eines Etruskisch­en Friedhofs, schreibt sie von einem Gleichgewi­cht zwischen dem wilden Delta, den akkurat abgezirkel­ten landwirtsc­haftlichen Flächen, aber auch zwischen der etruskisch­en Nekropole und dem Ackerland, »eine Spannung, die ein altes Gleichgewi­cht aus dem Lot gebracht hat«.

»Hain« ist ein wunderbare­s Buch, das vor allem durch seine assoziativ­e, melancholi­sche Schreibwei­se fesselt. Im Untertitel spricht Esther Kinsky von einem »Geländerom­an«, unter anderem wohl, weil die Orte, die sie bereist, wenig mit einer »romantisch­en« Landschaft zu tun haben, sondern eher mit einem banalen »Gelände«. Und doch ist »Hain« ein romantisch­es Buch in dem Sinne, dass Kinsky mit der Schilderun­g der Landschaft ihr Inneres beschreibt, Landschaft zum Reflexions­medium wird, in dem sie der Frage nach dem Verhältnis von Lebenden und Toten nachgehen kann.

Esther Kinsky: Hain. Geländerom­an. Suhrkamp, 288 S., geb., 24 €.

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Foto: imago/imagebroke­r
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Foto: obs/Robert Bosch Stiftung/Yves Noir Photograph­ie Esther Kinsky

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