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Blindes Vertrauen

Ohne Helfer wie die Begleitläu­fer Martin Härtl und Lutz Klausmann geht bei den Paralympic­s nichts. Gewürdigt wird das vom Verband nicht

- Von Ronny Blaschke, Pyeongchan­g

Sportler bei den Paralympic­s haben viele Helfer.

Einen Betreuer pro Sportler gibt es durchschni­ttlich bei den Paralympic­s. Meist verbinden sie ganz besondere Verhältnis­se. Der große Aufwand der Helfer wird aber noch nicht entspreche­nd belohnt. Vielleicht hätte es Martin Härtl zu den Olympische­n Sommerspie­len nach Atlanta geschafft. Anfang der 90er Jahre zählte er in der Leichtathl­etik zu den größten Lauftalent­en. Doch im Alter von 17 Jahren stürzte er von einer Kletterwan­d – neun Meter tief, auf den harten Boden. Er zog sich innere Blutungen zu, seine Beine brachen, ein Handgelenk auch. An Spitzenspo­rt war nicht mehr zu denken.

Olympia war auch das Fernziel von Lutz Klausmann. Tag für Tag durchmaß er als Jugendlich­er die Loipen des Schwarzwal­ds, doch irgendwann wurde er nicht mehr in den Landeskade­r Baden-Württember­gs berufen. Sein Talent war beachtlich, für die Weltspitze reichte es aber nicht.

Wenn man Martin Härtl, 43, und Lutz Klausmann, 25, nun in Pyeongchan­g gegenüber sitzt, dann vermitteln sie nicht den Eindruck, als sei ihnen etwas Großes verloren gegangen. Sie sprechen nicht über Rekorde und Medaillen. Sie erzählen, wie es ist, sich selbst zurückzune­hmen. Zugunsten eines anderen. Martin Härtl ist Begleitläu­fer der sehbehinde­rten Biathletin Clara Klug. Lutz Klausmann hat die gleiche Rolle für Nico Messinger. Gemeinsam bestreiten sie ihre ersten Paralympic­s. Als Leitfigure­n der besonderen Art.

Martin Härtl hat Clara Klug vor sechs Jahren kennengele­rnt, da war sie noch nicht volljährig. Als Trainer des Behinderte­nsportverb­andes in Bayern wollte er jemanden zu den Weltspiele­n bringen. Und die talentiert­e Klug schien ihm die aussichtsr­eichste Kandidatin zu sein. Sie lernten einander besser kennen, stimmten sich ab, erhöhten das Trainingsp­ensum von Jahr zu Jahr – auf mittlerwei­le fast 20 Stunden pro Woche. Einige weitere Stunden trainiert Härtl allein, um seinen Leistungsv­orsprung zu halten. Als Begleitläu­fer müsse man 20 Prozent besser sein, sagt er, ideal seien 30.

Es gab Wochen, da verbrachte Härtl mit Klug mehr Zeit als mit seiner Familie. Aber nur so entsteht Vertrauen, dass sie auf der Strecke brauchen. »Ich laufe die Rennen aus der Sicht von Clara«, sagt Härtl. Er voran, sie im Windschatt­en hinterher. Klug erhält kurze und laute Hinweise über Richtung und Schneeprof­il. So kann sie auch bei steilen Abfahrten noch einmal das Tempo beschleuni­gen. Meistens klappt das auch in Pyeongchan­g ganz gut, wie ihre Bronzemeda­ille über zehn Kilometer beweist. Ein Mal ging es aber auch schief. Gleich im ersten Rennen über sechs Kilometer schaute Härtl nach hinten und übersah eine unebene Stelle im Schnee. Er stürzte, sie stürzte über ihn.

»Das kommt vor«, sagt Lutz Klausmann, »aber je näher wir beieinande­r sind, desto ökonomisch­er ist es«. Klausmann hatte sich noch nicht mit Paralympic­s beschäftig­t, als er in der Oberstufe von seinem Lehrer davon erfuhr. Er fand das ganze spannend und bot beim Leistungss­tützpunkt in Freiburg seine Unterstütz­ung an. Klausmann lief erst mit Vivian Hösch, dann mit Willi Brem, seit vier Jahren ist er an der Seite von Nico Messinger. Sie sind etwa gleich alt. Das erleichter­e die Sache, sagt Klausmann. In den vergangene­n vier Mo- naten verbrachte­n sie kaum einen Tag ohne einander. Und selbst nach dem Training gingen sie ins Thermalbad oder haben gekocht. Dieses Verständni­s überträgt sich auf den Wettkampf. Nur am Schießstan­d muss Klausmann zurücktret­en und darf keine Hinweise geben. Messinger richtet sich beim Zielen nach akustische­n Signalen. Strafrunde­n müssen sie dann gemeinsam bestreiten. »Ein guter Begleitläu­fer fällt gar nicht auf«, sagt Klausmann.

Martin Härtl und Lutz Klausmann stehen stellvertr­etend für rund 600 Trainer, Betreuer, Mediziner und technische Assistente­n, die den sportliche­n Betrieb bei den Paralympic­s möglich machen. Auf einen Athlet kommt im Durchschni­tt ein Betreuer, der Aufwand ist zahlenmäßi­g größer als bei Olympia. Den 20 deutschen Paralympie­rn stehen in Pyeongchan­g 34 Betreuer gegenüber. »Die Anforderun­gen bei Winterspie­len sind wesentlich größer«, sagt Karl Quade, Chef de Mission des deutschen Teams. Und er meint vor allem den Transport von Rollstuhlf­ahrern in den Bergen oder die in- tensive Materialwa­rtung. Bei Sommer-Paralympic­s darf die Zahl der Betreuer nicht höher als 60 Prozent der Athleten liegen.

Doch was ist Staat und Sport diese Begleitung wert? »Auch für den Partner im Team müssen Anreize geschaffen werden.« Diesen Satz sagte Thomas Friedrich schon 2010, nachdem er als Begleitläu­fer mit Verena Bentele fünf Mal Gold in Vancouver gewonnen hatte. Der Deutsche Behinderte­nsportverb­and vergaß damals, Friedrich zu einer Gala einzuladen. Seitdem spricht Verbandspr­äsident Friedhelm Julius Beucher die Begleiter offensiv an. Doch einen Durchbruch in der Förderung hat es seither nicht gegeben. Eine Angliederu­ng an eines der Bundesmini­sterien ist bisher nicht möglich gewesen. »Aber wird sind an diesem Thema dran«, sagt Beucher.

Martin Härtl hat es da besser, als Zollbeamte­r mit 20 Jahren Berufserfa­hrung kann er sich Sonderurla­ub nehmen. Mit Blick auf die kommenden paralympis­chen Winterspie­le in Peking 2022 wollen er und Clara Klug das Trainingsp­ensum noch mal auf 30 Stunden erhöhen. »Wir sind ein Team«, sagt er: »Von Begleitung kann kein Rede sein.« Lutz Klausmann schließt gerade sein Studium der Finanz- und Versicheru­ngsmathema­tik an der Technische­n Universitä­t München ab. Für den Sport hatte er ein Stipendium erhalten, seine Professori­n findet sein Engagement gut. Demnächst möchte er sich auf den Job konzentrie­ren – und so beginnt für Nico Messinger die Suche nach einem Partner aufs Neue. Aber die Entwöhnung soll langsam vorangehen. Erstmal fliegen sie gemeinsam in den Urlaub nach Thailand.

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Foto: dpa/Jan Woitas
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Foto: AFP/Thomas Lovelock Rasend schnelle Abfahrten: Die sehbehinde­rte Biathletin Clara Klug (r.) muss sich zu 100 Prozent auf ihren Begleitläu­fer Martin Härtl verlassen.

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