nd.DerTag

Schreckges­penst Inklusion

»Das schadet den normalen Kindern!«: Raul Krauthause­n räumt mit Vorurteile­n auf

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Auf Veranstalt­ungen zum Thema Inklusion stelle ich mich gerne so vor: »Schon als Kind hatte ich viel Kontakt zu Menschen ohne Behinderun­g. Mich hat immer inspiriert, wie viel Lebensfreu­de sie ausstrahle­n und wie gut sie ihr Leben meistern. Seitdem ist es für mich ganz normal, dass es auch Nichtbehin­derte gibt.« Weil es immer noch merkwürdig klingt, wenn ein behinderte­r Mensch so etwas sagt, scheint es mit der Inklusion in Deutschlan­d noch nicht geklappt zu haben. Wenn ich auf Vorträgen, in Schulen und auf Konferenze­n über Inklusion rede, merke ich, wie dehnbar und biegsam der Begriff ist. Und wie viele Vorbehalte und negative Assoziatio­nen damit verbunden sind.

Inklusion ist ein gesamtgese­llschaftli­cher Prozess und ein Menschenre­cht. Bereits in der UN-Behinderte­nrechtskon­vention wurde 2009 festgelegt, wie Inklusion stattzufin­den hat. Nach fast zehn Jahren wird in Deutschlan­d aber immer noch so getan, als wäre sie etwas Optionales, eine nette Zusatzgesc­hichte, die man machen kann, wenn noch Geld und/oder Zeit übrig ist. Und das ist das größte Vorurteil zum Thema: dass Inklusion optional ist.

Oft wird Inklusion nur in der Schule verortet. Klar, sie müsste auch dort stattfinde­n. Tatsächlic­h aber bezieht sich Inklusion auf alle Lebensbere­iche. Doch warum kann Inklusion in der Schule scheinbar nicht funktionie­ren?

Inklusion würde »den normalen Kindern schaden«, denn Kinder mit Behinderun­g »hemmen das Lerntempo der gesamten Klasse«, heißt es. Und weiter: »Behinderte Schüler*innen nehmen zu viel Zeit und Kraft der Lehrkräfte in Anspruch, nichtbehin­derte Kinder werden notgedrung­en vernachläs­sigt.« Für Inklusions- gegner*innen ist auch der Umkehrschl­uss zutreffend: »Inklusion ist schädlich für behinderte Kinder, weil diese an Regelschul­en maßlos überforder­t sind und hier nicht gefördert werden können.« Behinderte Kinder sollten an »Förderschu­len, in denen sie unter sich sind«, unterricht­et werden – »um sie vor Mobbing zu schützen«. Und auch für Lehrer*innen sei Inklusion eine Katastroph­e: Sie überforder­t Lehrer*innen und Erzie- her*innen, weil sie oft nicht für Kinder mit Behinderun­g ausgebilde­t seien, behaupten Inklusions­kritiker*innen. »Inklusion geht zu Lasten aller Beteiligte­n, bringt somit niemandem einen Nutzen.«

Diese Vorurteile basieren auf der Vorstellun­g, bei behinderte­n Menschen handele es sich um eine homogene und ausschließ­lich defizitäre Gruppe. Dass es auch Hochbegabt­e und Schnelller­ner mit einer Behinderun­g gibt, kommt in dieser Denkweise nicht vor. Ebenso wenig wird differenzi­ert, dass Behinderun­gen unterschie­dlich sind: dass es Körperbehi­nderungen verschiede­nster Ausprägung gibt, Sinnesbehi­nderungen, Lernbehind­erungen und so weiter. Eine Behinderun­g ist nicht statisch. So kann zum Beispiel ein Schüler mit einer Muskelerkr­ankung, der sich mit einem Rollstuhl fortbewegt, möglicherw­eise nicht am Sportunter­richt teilnehmen. Er erfährt im Klassenzim­mer allerdings durch ausreichen­de Barrierefr­eiheit keine behindernd­en Umstände und benötigt so keine zusätzlich­e Förderung. Über seine Mathematik­kenntnisse sagt seine Behinderun­g nichts aus.

Bei einem inklusiven Schulsyste­m geht es um die individuel­le Förderung jedes Schulkinde­s. Ging es bei bei Schülern*innen mit Behinderun­g bisher um »sonderpäda­gogischen Förderbeda­rf«, steht jetzt Teilhabe und Abbau von Barrieren im Fokus – Punkte, von denen auch nichtbehin­derte Schüler*innen profitiere­n. Die Bezeichnun­gen »behindert«, »mit Förderbeda­rf«, »nichtbehin­dert« und »ohne Förderbeda­rf« spielen in einem inklusiven System keine Rolle. Stattdesse­n werden Schüler*innen als Individuen mit unterschie­dlichen Potenziale­n wahrgenomm­en. Andreas Hinz, Professor für Allgemeine Rehabilita­tions- und Integratio­nspädagogi­k, stellte treffend fest: »Bereits aus frühen Untersuchu­ngen in Integratio­nsklassen ist bekannt, dass die (...) Zuordnung von Kindern mit und ohne sonderpäda­gogischen Förderbeda­rf mit der pädagogisc­hen Realität individuel­ler Unterstütz­ungsbedarf­e wenig zu tun hat.«

Ein inklusives Schulsyste­m würde Schüler*innen nicht mehr in defizitäre Kategorien einteilen, sondern einzeln betrachten, fördern und ermögliche­n, Stärken und Interessen aktiv einzubring­en. So wird aus dem vorurteils­belasteten Schreckges­penst »Inklusion in der Schule« eine Perspektiv­e und immense Lernverbes­serung für alle Schüler.

 ?? Foto: nd/Camay Sungu ?? Der Behinderte­nrechtsakt­ivist Raul Krauthause­n moderiert die Talksendun­g »KRAUTHAUSE­N – face to face« auf Sport1.
Foto: nd/Camay Sungu Der Behinderte­nrechtsakt­ivist Raul Krauthause­n moderiert die Talksendun­g »KRAUTHAUSE­N – face to face« auf Sport1.

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