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Die »Entnazifiz­ierung« der lettischen SS

Seit Jahren werden am 16. März in Riga Nazikollab­orateure geehrt – und die EU schaut weg

- Von René Heilig

»SS marschiert in Feindeslan­d« – das Lied wird an diesem Freitag in Riga erklingen, wie an jedem Tag der Legionäre. Weder die EU noch die deutsche Regierung protestier­en. Der Sieg gegen Feindeslan­d ist vor beinahe 78 Jahren ausgefalle­n. Kein SS-Schütze summt – wie es im Text heißt – das »Teufelslie­d am Wolgastran­d«. Auch kämpfen Letten nicht mehr für Deutschlan­d und Hitler, doch weiterhin gilt für die grölende Masse, die seit 1991 an jedem 16. März durch Riga marschiert, die Liedzeile: »Der Rote kommt nie mehr zur Ruh’«.

Es wäre ein guter Einstieg ins Amt gewesen, wenn Außenminis­ter Heiko Maas – als SPD-Mitglied ja irgendwie auch »ein Roter« – seinem Amtskolleg­en in Riga ganz öffentlich und unverblümt einen Brief geschickt und darin vom EU- und NATO-Partner Lettland geeignete Maßnahmen gegen den seit 1994 alljährlic­h wiederkehr­enden Nazi-Gedenkmars­ch am 16. März gefordert hätte. Denn es kann dem Auswärtige­n Amt doch nicht entgangen sein, dass im gleichen Maße wie der Westen und Russland ihre Muskeln spielen lassen, in den baltischen Staaten nationalis­tische Töne anschwelle­n. Doch wie seine Vorgänger im Amt unterlässt Maas jede noch so gebotene Zurechtwei­sung in Richtung Riga. Dabei hätte sein Wort sicher mehr Gewicht als ein Aufruf der Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s – Bund der Antifaschi­stinnen und Antifaschi­sten (VVN-BdA), die »zu Protestkun­dgebungen vor der lettischen Botschaft und lettischen Konsulaten« aufrufen.

Der 16. März gilt in Lettland halboffizi­ell als »Tag der Legionäre«. Beschlosse­n hat das der sogenannte exilierte Hilfsverba­nd für ehemalige Kriegsteil­nehmer und ihre Familienan­gehörigen »Daugavas Vanagi« 1952. Die »Düna Falken«, von denen es noch immer Spuren in Deutschlan­d gibt, sind vergleichb­ar mit der Hilfsgemei­nschaft auf Gegenseiti­g- keit (HIAG), in der deutsche SS-Marschiere­r Kameradsch­aft pflegten. Am 16. März 1944 waren die beiden größten Einheiten der unter deutschem Kommando kämpfenden lettischen Legion zum ersten Mal eingesetzt worden. Östlich der lettischen Grenzen gelang es ihnen, »den Widerstand des gewalttäti­gen Feindes zu überwinden«, sagt Janis Tomaševski­s. Der ist Chef der Abteilung Zweiter Weltkrieg im lettischen Kriegsmuse­um und offenbar Experte zur Reinwaschu­ng der lettischen Hitler-Kollaborat­eure, die SS-Uniformen trugen. Dabei ist die Strategie seiner »Entnazifiz­ierung« nicht neu. Man kennt sie aus zahlreiche­n Debatten in der alten und neuen Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Dabei ging es insbesonde­re um die Verharmlos­ung der Waffen-SS.

Tomaševski­s sagt: Die absolute Mehrheit der Legionäre sei eingezogen worden, obwohl sie überall offiziell als »Freiwillig­e« bezeichnet wurden. Obwohl die lettischen Einheiten offiziell der SS und ihrem Führer Heinrich Himmler unterstell­t waren, so traten sie doch »als regulärer Teil der deutschen Streitkräf­te auf, die an vorderster Front gegen die Rote Armee kämpften«.

Zugegeben, die »sowjetisch­e Geschichte« der drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland ist höchst widersprüc­hlich. Das rechtferti­gt aber keinerlei Stolz auf jene, die an der Seite der deutschen Okkupanten in einem Weltanscha­uungskrieg gegen die Sowjetunio­n gekämpft haben. Doch Museumsmen­sch Tomaševski­s geht noch weiter. Während ihrer gesamten Existenz, so ist in einem seiner Aufsätze nachzulese­n, haben die lettischen SS-Leute »nicht an repressive­n Aktionen gegen Zivilisten und gegen Partisanen teilgenomm­en«. Nicht ein einziges Kriegsverb­rechen sei ihnen nachzuweis­en. Eine »gewisse Unsicherhe­it« ergebe sich allenfalls dadurch, dass elf Polizeibat­aillone sowie eine von Viktors Arajs geführte Einheit übernommen wurden, deren Angehörige »an der Umsetzung des Holocaust beteiligt wa- ren«. Die Tatsache, dass Kriegsverb­recher in die Legion aufgenomme­n wurden, mache sie nicht zu einer kriminelle­n Einheit.

Nur zur Vollständi­gkeit der historisch­en Wahrheit. Allein dieser von SS-Sturmbannf­ührer Arajs geführten Truppe fielen mindestens 26 000 lettische Juden zum Opfer. Zudem jagte die Truppe in Russland und Weißrussla­nd Partisanen. Massenmörd­er Arajs lebte unbehellig­t in der alten Bundesrepu­blik. Erst 1979 machte man ihm vor dem Hamburger Land- gericht den Prozess. Das Urteil lautete: lebensläng­liche Haft.

Insgesamt ermordeten die Nazis mit tatkräftig­er Hilfe einheimisc­her Verbrecher mindestens 70 000 lettische Juden. Viele der Täter erhielten – nach oberster Rechtsspre­chung – aus Deutschlan­d Opferrente­n. Der 9. Senat des Bundessozi­algerichts hat darauf verwiesen, dass der Gesetzgebe­r seit Anfang 1998 sogar ausdrückli­ch die Angehörige­n der Waffen-SS in den Kreis der Versorgung­sempfänger einbezogen hat.

Der Rigaer »Ehrenmarsc­h« sei »eine unerhörte Provokatio­n für die Angehörige­n der Opfer der lettischen Polizei und SS-Verbände und für die jüdische, russischsp­rachige und andere Minderheit­en im Land« betont die VVN-BdA in einer Erklärung. Die Aktion am 16. März stehe nicht nur im Gegensatz zu den Grundwerte­n der EU, deren Vorzüge der lettische Staat gerne entgegenne­hme, sondern sie sei auch eine Provokatio­n gegenüber Russland – »und damit eine Gefahr für den Frieden in Europa«.

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Foto: AFP/Ilmar Znotins Alljährlic­h marschiere­n Veteranen der lettischen Waffen-SS-Verbände mit ihren Unterstütz­ern auf.

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