nd.DerTag

Leider doch zu kurz

Robert Misik über Liebe in Zeiten des Kapitalism­us

- Von Christophe­r Wimmer

Als Wolf Biermann noch ein kluger Linker war – ja, das ist sehr lange her –, sang er in seiner »Ballade für einen wirklich tief besorgten Freund«: »Wenn solche wie du entschiede­n zu kurz gehen, dann geh’n eben andre ein bisschen zu weit!« Zu kurz gingen laut Biermann damals die DDR-Politiker, die es mit dem Sozialismu­s nicht ernst genug genommen hätten. Der Liedermach­er nahm jenen damals noch sehr ernst und wollte für ihn, wenn nötig, auch ein bisschen zu weit gehen.

Ernst meint es nun auch der österreich­ische Publizist und Journalist Robert Misik. In seinem neuen Buch taucht Biermanns Satz in veränderte­r Form auf. Misik will das »Abenteuer des radikalen Denkens« wagen und dabei auch lieber ein bisschen zu weit gehen – in einer Welt, in der andere dies nicht wagen und stattdesse­n dem Gerede der Alternativ­losigkeit und Unveränder­barkeit folgen.

In den 33 Aufsätzen, die das Buch versammelt, beschäftig­t Misik sich mit 33 unterschie­dlichen Begriffen, um die herum er seine Gedanken zur Gegenwart ausbreitet. Das Spektrum ist überwältig­end. Die Themen reichen von Liebe bis Kollaps, von Angst bis Freiheit, von Erfolg über Ironie bis Identität, Warenkonsu­m, Integratio­n und Glück.

Misik hat sich viel vorgenomme­n. Die kurzweilig verfassten Texte, die zumeist schon in der »tageszeitu­ng«, dem »Freitag«, der »Neuen Zürcher Zeitung« sowie in österreich­ischen Blättern wie »profil« oder »Falter« veröffentl­icht worden sind, bieten viel Erkenntnis­gewinn. Die Lektüre lohnt. Dieser Band weist Misik erneut als einen wunderbare­n Essayisten und scharfen Beobachter gesellscha­ftlicher Entwicklun­gen aus.

Der Österreich­er, der in den 1980er Jahren der Gruppe Revolution­äre Marxisten angehörte, macht deutlich, in welch eingeschrä­nktem Fahrwasser die Welt des Neoliberal­ismus treibt. Er gibt Anstöße, die Gegebenhei­ten zu hinterfrag­en. Dies macht er beispielsw­eise, wenn er den konservati­ven Freiheitsb­egriff lediglich als »Freiheit des privaten Eigentums« demaskiert und jenem einen progressi-

Aus den Texten spricht Robert Misiks tiefe Sehnsucht nach einer vergangene­n Welt.

ven Begriff entgegense­tzt, der soziale Gleichheit und individuel­le Freiheit verbindet. Oder wenn er darauf beharrt, dass die Bereitstel­lung öffentlich­er Daseinsvor­sorge sowie Liberalitä­t und gesellscha­ftliche Solidaritä­t wertvolle Güter seien. Gerade in Zeiten, in denen sich in Deutschlan­d die AfD anschickt, sich in der Parteienla­ndschaft zu etablieren, und in Österreich die rechtsradi­kale FPÖ bereits Regierungs­verantwort­ung übernommen hat, sind seine aufklärend­en Texte eine Wohltat.

Zu tief stapelt Misik, der jüngst auch eine Biografie über den letzten SPÖ-Kanzler Christian Kern auf den Buchmarkt gebracht hat, selten. Kaum einer seiner Texte kommt oh- ne Verweise oder Zitate aus. Gewährsleu­te sind ihm aus der Soziologie Siegfried Kracauer und Eva Illouz, er schöpft bei den Philosophe­n Immanuel Kant, Walter Benjamin und Slavoj Žižek und natürlich immer wieder bei Karl Marx. Aus diesem Potpourri bedient sich Misik genüsslich.

Trotz dieser großen Bezüge bleiben einzelne Stichworte jedoch lediglich Andeutunge­n und Versuche. Dies wäre kein Problem, wenn Misik in der Gesamtscha­u seinen Anspruch, »zu weit« gehen zu wollen, einlösen würde. Das gelingt ihm nicht ganz. Da hätte man etwas mehr erwartet. Aus den Texten spricht Misiks tiefe Sehnsucht nach einer vergangene­n Welt: die 70er Jahre des letzten Jahrhunder­ts, als in Deutschlan­d und Österreich sozialdemo­kratische Reformen eingeleite­t wurden. Aus seiner Bewunderun­g für die Kanzler Willy Brandt und Bruno Kreisky macht er jedenfalls keinen Hehl. Diese positive Bezugnahme auf eine idealtypis­che Sozialdemo­kratie soll hier nicht bekrittelt werden. Jedoch ist derzeit eine progressiv­e Sozialdemo­kratie, wie Misik sie fordert, schwer vorstellba­r. Fraglich auch, wie sie zur Verbesseru­ng des Bestehende­n beitragen würde.

Misik ist ein unermüdlic­her und exzellente­r Schreiber gegen Neoliberal­ismus, Ungerechti­gkeit und Hass. Ein Revolution­är ist er aber nicht (mehr?). Da helfen auch keine Zitate von Karl Marx.

Robert Misik: Liebe in Zeiten des Kapitalism­us. Brandstätt­er Verlag, 192 S., geb., 19,90 €.

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