»Das Staunen lass ich mir nicht nehmen«
Friedrich Schorlemmer über Glauben und Güte, dünne Haut und Bäume, den Wert schöner Worte und die Umkehrung eines Operetten-Verses
Friedrich Schorlemmer, Sie behaupten, im Beruf des Predigers sähen Sie im Grunde eine Anmaßung. Was maßen Sie sich denn auf der Kanzel an?
Die Anmaßung besteht darin, dass ich über Gott rede, aber kein Berufungserlebnis vorweisen kann. Das sperrige Wort aus ferner Zeit versuche ich mit Zeichen meiner Zeit zu verbinden. SEIN Wort in meinen Worten weitersagen. Aber wer bin ich denn, dass ich »von da oben« mit Wahrheitsansprüchen rede?
Bei der Vereidigung deutscher Regierungen – nichts dagegen zu sagen – hören wir: »... so wahr mir Gott helfe.« Wobei kann er helfen? Alles Tun und Reden ist vorläufig, und alles Entscheiden braucht Demut. Das Wort GOTT verweist darauf, dass es etwas gibt, das alles umfasst – das aber durch nichts, schon gar nichts Endgültiges, adäquat sagbar ist.
Gott ist, »dass man sich gesehen sieht«, steht bei Peter Handke.
Das genau wäre hilfreich und heilsam für einen tonangebenden Politiker. Und dass er ganz im Sinne Willy Brandts weiß: Ich bin gewählt, nicht erwählt.
Das alles geht auch ohne Gott. Dem einen ja, dem anderen nicht. Punkt. Religiosität, Sie haben recht, ist kein Pflichtmandat.
Sie glauben an Gott.
So formuliere ich das nicht.
Sondern?
Ihm, Jesus, glaube ich Gott. Glaube als Vertrauen verlangt den Dativ, nicht den Akkusativ.
Ihm! Jesus – der Blinde sehend, Taube hörend, Lahme gehend macht. Wird er damit als Bezugsgestalt nicht unglaubhaft überfordert?
Das ist sinnbildlich, beispielhaft und zugleich ganz konkret gemeint. Kämpfen wir nicht erfolgreich gegen Krankheiten, die gestern noch unheilbar waren? Gibt es sie nicht, die helfende Hand, die schier Unmögliches vollbringt? Und wie viele Menschen haben nur aufgrund einer tiefen Glaubenskraft Schlimmes überlebt? Oder schließlich gelassen losgelassen?
Das hat auch mit individuellem Naturell zu tun.
Ja. Aber ebenso viel mit einem Glauben, der dem Körper eine Kraft zusteuert, die man vorher nicht kannte, die man nicht vermutete und die ei- nen plötzlich übersteigt, also: jene Vorstellung übersteigt, die man bisher von sich selber und seinen Möglichkeiten hatte.
Religiosität ist dann richtig verstanden, wenn sie am elementaren Lebensrecht aller orientiert bleibt? Wohlgemerkt: Lebensrecht aller! Friedrich Schleiermacher sprach von Gott als dem Gefühl »schlechthinniger Abhängigkeit«. Besonders der »religiöse Mensch« muss wissen, dass wir nicht die Herrscher der Welt sind, sondern Nutznießer von Gegebenem. Aber doch mit der Begabung, dieses Gegebene in Teilen ...
Wichtig: in Teilen!
... ja, in Teilen zu erkennen, umzuformen, es zu nutzen, und zwar auf eine heilsame Weise. Gottvertrauen heißt: Ich habe die Differenz zwischen meinen Worten und meinem Handlungsvermögen erkannt, und ich darf mit dieser Differenz getrost leben – unter der Voraussetzung, dass ich nicht aufhöre zu versuchen, sie zu verringern. Aber eben in Gewissheit, das Erhoffte nie ganz zu erreichen. Ich nenne das die Dennoch-Existenz. Siehe Psalm 73!
Es scheint, wir leben in Zeiten von Vorgewittern. Traditionelle Weltund Menschenbilder wanken, es wird nach neuen gesucht. Marx, Luther – nervös, beflissen werden große Geister aufgerufen. Möge sich Politik von Religion (wieder) inspirieren lassen?
Es gibt das schöne Wort von der »Schwarzbrotspiritualität«. Es verweist darauf, dass wir religiös nicht entrücken dürfen, sondern mit dem Sozialen, in dem wir leben, verbunden bleiben müssen. Es gibt kein Glück ohne das Glück der anderen.
Wenn Sie kein »Berufungserlebnis« vorweisen können, woraus schöpfen Sie?
Ich schöpfe aus einem Leben, das sich durch sich selber bezeugt, das sich auf biblische Texte konzentriert, das Poesie wahrnimmt und dubezogen bleibt, ein Leben also, das im Reden von Gott hoffentlich immer ein menschliches, ein menschenbezogenes Reden ist. Wie schreibt Heinrich Böll in seinen »Ansichten eines Clowns« so wunderbar: Die Katholiken mag er nicht, weil die so falsch sind; die Protestanten mag er nicht wegen ihrer dauernden Gewissensfummelei; und die Atheisten mag er nicht, weil die ihm zu viel von Gott reden. Die Zwickmühle: Wir sollen als Theologen von Gott reden, sind aber Menschen und können als solche nicht adäquat von Gott reden. Wir müssen um das wissen, was wir sollen, aber auch um das, was wir nicht können – und eben damit Gott die Ehre geben. So etwa sagte es Karl Barth.
Was heißt Erlösung?
Es geht um ein gelöstes Leben – ohne Überhebung oder Beweisnot, sondern im Bewusstsein: Ich bin begnadet, weil es mich so gibt, wie ich bin. Ich bin ein geliebtes Wesen. Ich bin wertvoll. Ich bin gewollt. Ich bin ohne Vorleistung akzeptiert.
Soll das auch heißen: dulden, dulden, dulden? Das soziale Elend hinnehmen? Bettelnd an der Ecke sitzen und sich einbilden, man sei geliebt? Heil nicht ohne Wohl, Gott nicht ohne Brot. Leben gegen die Angst, Widerstehen aus Vertrauen: Ich gebe mich mit allem hin, was mir gegeben ist – und gewinne so Kraft, etwas zu tun. Etwas, das dieser Welt guttun möge! Tun, was ich kann. Rückschläge hinnehmen und notfalls aufständisch reagieren. Selbstüberforderung ist genauso falsch wie Selbstunterforderung. Ich muss die Welt nicht retten. Ich kann sie auch nicht retten. Aber Not kann ich lindern. Und wissen: Über allem steht ein JA.
Ein Ja, dass Zuversicht möglich sei. Brechts heilige Johanna der Schlachthöfe sagt: »Sorgt doch, dass Ihr die Welt verlassend, nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt!«
Richtig. Das ist das unbedingte Ziel. Ist es seit jeher. Hartz IV zum Beispiel muss weg. Aber wenn Leute fortwährend nur trompeten: Fluchtursachen beseitigen! den Kapitalismus beiseite schaffen! – dann darf das nicht Plakat werden im Kopf, etwas, das knattert wie Fahnen im Wind. Es darf den anderen Ruf nicht übertönen: konkrete Hilfe gegen Not, konkrete Barmherzigkeit gegen Elend, konkrete Unterstützung für Bedürftige – das ist Teil unserer gesellschaftlichen Kultur. Und bitte nicht vergessen, in welcher errungenen Freiheit wir leben. Ich mag Menschen nicht, die in ihrem theoretischen Weltveränderungsfeuer kalt gegen den Einzelnen werden, der jetzt und immer wieder jetzt Hilfe braucht. Auch meine. Heute.
Es gibt ein Foto, Sie unter einem Luther-Wandspruch: »Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat will.« Das ist bundesdeutsches Grundgesetz, nur anders formuliert. Die Würde des Menschen ist unbedingt zu schützen. Der Indikativ geht dem Imperativ voraus. An dir wird Großes getan. Nun tu das dir Mögliche.
Sie sprechen vom Glauben in das Voraussetzungslose unserer Existenz. Was nützt dies aber in einer Welt, in der wir von gierigen Interessen und Kalkülen geradezu verätzt sind?
Herder sagt, wir seien die Lieblingsidee Gottes gewesen. Man muss allerdings sagen, er hat mit uns auch noch geübt. Da ist also manches schief gelaufen. Nehmen Sie den Kampf zwischen der nomadischen und der sesshaften Existenz. Beides kennzeichnet ein grundverschiedenes Verhältnis zu Besitz und Natur. Ge- siegt hat die besitzergreifende sesshafte Welt, das könnte die Erde, die ganze Erde und die Erde ganz kaputtmachen.
Im Heiner-Müller-Stück »Der Auftrag« sagt einer, er schäme sich, in dieser Welt glücklich zu sein. Das schmerzt in seiner Wahrhaftigkeit. Aber es gibt doch auch einen Widerspruch zwischen denen, die fortwährend die kapitalistische Gesellschaft anklagen, und dem Alltag von Millionen Menschen, denn: Deren Leben ist vielfach lustvoller, als es von Mahnern – auch von Ihnen – an die Wand gemalt wird.
Ich gehöre nicht zu denen, die in allem Bürgerlichen nur Zerfall, rundum nur Faschismusgefahr und als Konsequenz nur immer Klassenkampf sehen. Es gibt vermeintliche Welterlöser, die sind selber so unerlöst, dass man sich nur wünschen kann, sie kämen nie an ein Ruder. Das geht durch alle Gruppen von Menschen, die sich leidenschaftlich für etwas engagieren und darin, naturgemäß, zur Vereinseitigung neigen. Es gibt Leute, die sagen mir dauernd, die Welt sei grausamer, als ich es selber weiß. Die wollen mich in Steigerungsformen des Gesellschaftshasses schulen. Die haben »analytisch« oft sogar Recht, aber sie rauben mir mit ihrer Wahrheit auch alle Lust. Es ist dies ein trauriger Widerspruch. Unsere Welt bleibe verschont von unglücklichen Glücksbringern!
Sie sind Pfarrer, Sie verbreiten Trost, wenn nicht gar Hoffnung. Manchmal wider das bessere eigne Wissen?
Jeder Prediger ist auch ein »Jakob der Lügner«. Trost verändert nicht die Welt, aber: bestärkt den Einzelnen.
Und Wahrheitssuche geht nur mit Satz und Gegensatz. Wahrnehmung gegen Wahrnehmung. Und alles, damit um Himmels willen nicht die Wahrheit gefunden wird, sondern nur immer ein nächster Grund, sie zu suchen.
Sie nennen es das Hauptproblem einer Kirche, reich, aber keine Volkskirche zu sein. Also nur »religiöser Senfgeber« zu bleiben. Kirchen wurden jedenfalls nicht gebaut, um den Tourismus zu fördern. Und das Entscheidende an den Türmen ist nicht die Wetterfahne, sondern das Kreuz. Im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht nicht die Institution Kirche, auch nicht der angeblich bessere, also reine gute Mensch, sondern das Reich Gottes: eine Vor-
»Pessimismus ist die Feigheit derer, die sich nicht mehr aufbäumen. Ich habe immer gegen den Satz zu leben versucht, der da lautet: Man kann eh nichts machen. Das ist der Satz derjenigen, die noch nie aufstanden von ihrem Fensterplatz hinter der Gardine.«
»Schrecklich, wie krank die Bäume draußen vor meinem Fenster sind, aber sehen Sie doch selbst: über diesen Bäumen das tiefe samtene Himmelrot!«
stellung, die unsere gegenwärtig existierenden Reiche inspiriert und kritisiert, eine Größe, in der das Große klein, das Unscheinbare groß, die Übersehenen ansehnlich und die Vergessenen Beachtete sind. Christen sind nicht bessere Menschen, sondern begnadete Sünder, die einen Weg aus ihrer Selbstverfehlung suchen. Und finden!
Kirchen, Parteien – wer von denen entzündet sich denn wirklich noch an treibenden geistigen Fragen?
Ja, überall eher Lähmung. Rundum mäßige Intelligenz, Armut an Charisma. Routinierte Mechaniker, ungelenke Phraseure. Wie es das Grab der Parteien wurde, so ist es das Grab der Kirche, wenn sie nicht bei den Menschen ist – und ihnen zugleich ein Maß gibt. Manchmal könnte ich schreien: Wir entfernen uns vom realen Leid. Wir locken die Leute zu Diskussionen mit anschließendem Empfang. Bitter.
Diejenigen, die Opfer sozialer und politischer Verwerfungen sind, bleiben in der Regel unfähig, die Zusammenhänge ihres Schicksals zu begreifen.
Schicksal? Was ist das! Eine Ausrede.
Schicksal ist: Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt. Möglich ist auch dies: Erstens kommt es anders und zweitens, weil man denkt. Schicksal ist in erster Linie Zusammenhang ...
... den zu erkennen die Leidtragenden, die sozial Unterlegenen, oftmals nicht in der Lage sind. Das ist auch Denkschwäche, Anpassungsakrobatik?
Der polnische Aphoristiker Stanislaw Lec schrieb: »Man muss sich mit den ganz großen Problemen beschäftigen, solange sie noch ganz klein sind.« Das heißt: Ich muss mich heute schon mit Problemen auseinandersetzen, die mich zwar noch nicht betreffen, aber mich doch jeden Tag packen können. Es gibt ein Wort dafür: Solidarität. Aber diejenigen, die bereits von sozialer Härte und Ungerechtigkeit betroffen sind, benutzen ihre Lage leider oft als Rechtfertigung, um überhaupt nicht mehr über Systemfragen nachzudenken. Oder ihnen fällt nichts anderes ein als nur immer der Satz: Das System ist schuld.
Es gibt einen mentalen Schaden sozialer Opfer?
Und auch eine bierselige Verlierermentalität, deren Jammerton genau jene Strukturen stabilisiert, die allem Unglück zugrunde liegen.
Karl Marx – der in diesem Jahr in aller Munde ist wie Luther im letzten – hat geschrieben: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur ... Sie ist das Opium des Volkes.«
In der Kirche wird gebetet, also auch geklagt. Not wird aussprechbar. In einer Gesellschaft, die als herzlos empfunden wird, finden Menschen einen Zusammenhalt, sie sind das »Gemüt einer herzlosen Welt« – Religion gibt entfremdeten Menschen Raum für Zuwendung. Glaube kann sehr wohl Schmerzmittel werden – wenn er hilft, solche Schmerzen zu überstehen, deren Ursache nicht von heute auf morgen getilgt werden kann. Das ist für mich sehr nah am Menschen: Wir bleiben gebrochene Existenzen. Bewusstseinsoperationen, Erziehungsdiktaturen – und seien sie noch so gut gemeint – machen uns nicht gesünder. Und »das Volk« – in Empörung und Ressentimentgeladenheit – kann leider auch zum Pöbel werden.
Friedrich Schorlemmer, viel geht derzeit die Rede von der Nachhaltigkeit – vor allem des Wirtschaftens.
Nachhaltigkeit zielt, wenn sie ehrlich gemeint ist, auf ein neues Ethos. Nicht ingenieurtechnisches Können baut ja die sturmfestesten Schiffe, sondern bekanntlich die Sehnsucht nach dem Meer.
Aber vor allem Gier baut an der Welt, Profit wuchtet hoch, errichtet Festungen aus Glas und gleißendem Glanz.
Gier will nicht haben, sie will immer mehr haben. Sie ist kein Zustand, sondern eine Bewegung. Sie kennt nur die Wollust, nicht die Befriedigung. »Herzensverfettung« nannten das die alten Propheten.
Das freie Spiel der Kräfte ist doch aber ein wichtiger Motor für Konkurrenz und damit für gesteigertes und unablässiges Schöpfertum. Dieses Menschenbild nimmt jedoch die biologische Gebundenheit des Einzelnen an den Stärkedrang als unabänderlich hin, nennt das dann Realismus und spricht dort, wo diese Stärke rücksichtslos ausgelebt wird, von gelingender Freiheit.
Es gibt im Öffentlichen eine werberische Aggressivität, die verhängnisvoll sein könnte. Alles ist auf Überbietung ausgerichtet. Vorwärts, vorwärts! Ja, immer ist Zukunft im Anzug – aber nur auf die Marke des Anzugs scheint es vielen anzukommen. Dieser militante Mythos des Perfekten, schnell Erreichbaren und Konsumierbaren – es verwandelt ein natürliches Streben nach optimaler Lebensgestaltung in einen indirekten Vorwurf an alle, die nicht mitmachen.
Der Philosoph Günther Anders schrieb, unser Innen werde mit Lieferwaren vollgestopft. Irgendwann tun wir nur noch das, was uns angetan wird; irgendwann wird nur gedacht, was uns zugedacht wird; irgendwann wird nur noch benötigt, was uns aufgenötigt wird. Eine Alternative dazu bleibt jene andere Projektion von Gesellschaft, die der Ambivalenz der menschlichen Natur nicht ausweicht, aber dennoch eine tragfähige Verantwortungsethik entwickelt. Gegen den betonierten Egoismus wird in solcher Gesellschaftsfantasie die Hoffnung einer Verwandlung gesetzt: Es ist die mögliche Verwandlung des Gewinnwitternden in einen Mitfühlenden, des Beutemachers in einen Solidarischen, des (Ver-)Zweifelnden in einen Hoffnungsvollen, des Trägen in einen Aktiven.
Schöne Worte!
Es ist der Traum von Menschen, der in der schwierigen Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit gleichsam seinen Ort, seine Freiheit findet. Eine Freiheit nicht von etwas oder von allem, sondern eine Freiheit für etwas, für alle.
Schöne Worte!
Nicht besinnungsloses Raumgreifen, sondern Raum schaffen für Besinnung und Begreifen, nämlich: dass die Welt mehr ist als der gewaltige, lichtverdunkelnde Horizont der Besitztümer.
Herr Schorlemmer: schöne Worte!! Wir sind schwach, ja, aber deshalb ist es doch schön, wenn unser Wort darüber hinausgeht. Don Carlos: »O, der Einfall war kindisch, aber göttlich schön.« Gestatten wir doch dem Wort, edler zu sein als unsere Taten. Eine Sache wird nicht dadurch falsch, dass sie derjenige, der sie äußert, selber nicht leben kann. Eine Utopie wird nicht dadurch entwertet, dass wir nicht vor ihr bestehen. Wir fassen die Sterne zwar nicht, nach denen wir greifen, aber ihr Licht strahlt dennoch. Nochmal Schiller: »Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.« Entfremdung ist etwas, das man nicht besiegen, nicht abschaffen kann.
Stimmt. Wir können uns nichts zu eigen machen, ohne dass wir uns in eine Fremde begeben. Das ist das Risiko der Freiheit. Wir sind verloren, wenn nicht wieder Demut zum allgemeinen Empfindungsgut wird? Wir sind verloren, wenn wir uns nicht wieder einfügen in die Gesetze der Natur, deren Teil wir am allerwenigsten in der fatalen Logik sind, dass stets der Stärkere den Schwächeren besiegt.
Und wir sind verloren, wenn uns das Wissen um die eigene Vergänglichkeit nicht einsichtsvoll bändigt?
Der Prediger Salomo, der große Skeptiker mit nihilistischem Einschlag, tröstet sich selber, tröstet seine Hörer über den garstigen Graben der Geschichte hinweg, und zwar mit der Wahrheit unseres unaufhaltsamen Vergehens: »Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh:/ wie dies stirbt, so stirbt auch er,/ und sie haben alle einen Odem,/ und der Mensch hat nichts voraus vor dem Vieh;/ denn es ist alles eitel.«
Im Wissen darum: Trotz alledem? Ja, der Bergpredigt folgen. Aber, Vorsicht: Sie ist kein Moralkodex. Grundlegend ist der Zuspruch, aus dem Ansprüche folgen. Seligpreisungen stehen voran, nicht radikale Antithesen. Insofern ist sie kein »frühkommunistisches Manifest«.
Wieso nicht? Linke berufen sich gern darauf.
Das Christentum knetet nicht, es vertraut dem Menschen, wie er ist. Das ist ein höherer, ein weit mühsamerer Ansatz, als zu meinen, er sei per Ideologie ins verlässlich Löbliche zu zwingen. Mit Machiavelli oder Berija.
Das Christentum hat nie gelehrt, dass Geschichte einen Zweck hat? Hat es nie! Und es hat nie versprochen, die sozial-politischen Probleme um den Preis eines neuen Menschen zu lösen. Alle Harmonie ist höchstens Fragment – immer neu zu erringen. Schöner Torso.
Glück wäre also jener Einklang mit sich selbst, der aber den Missklang im Unglück anderer nicht überhört. Oder um einen Operetten-Vers in sein Gegenteil zu kehren: Glücklich ist, wer nicht vergisst, was alles noch zu ändern ist! Glücklich ist nach meiner Auffassung, wer das Intensive und das Extensive als ein Gleichgewicht zu leben vermag. Im Maßhalten leidenschaftlich, im Überschwang kontrolliert. Der Mainstream, wo die glänzenden Medaillen vergeben werden, erweist sich am Ende meist als Ort nur für die weniger Begabten.
Schwere Arbeit: das Bescheidene zu bevorzugen, ohne das Genießende zu unterlassen.
In seiner »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral« erzählt Heinrich Böll, wie ein Tourist einem am Strande sitzenden Fischer einzureden versucht, er solle doch seine Fangquote immer weiter erhöhen – bis er schließlich Besitzer einer ganzen Fischfangflotte sei. »Dann«, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, »könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.« – »Aber das tue ich ja schon jetzt«, sagt der Fischer, »ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Sie haben mich dabei gestört.« Der solcherart belehrte Tourist zog nachdenklich von dannen; lange hatte auch er geglaubt, er arbeite, um eines Tages nicht mehr arbeiten zu müssen, und nun blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.
Ist Optimismus die Feigheit derer, die der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollen?
Ja, ja. Aber Pessimismus ist die Feigheit derer, die sich nicht mehr aufbäumen. Ich habe immer gegen den Satz zu leben versucht, der da lautet: Man kann eh nichts machen. Das ist der Satz derjenigen, die noch nie aufstanden von ihrem Fensterplatz hinter der Gardine. Der Psalm 24 sagt: »Die Erde ist des Herren und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.« Wunderbar übersetzt von Luther. Ich sage jeden Morgen: Mein Gott, schon wieder ein Tag! Heute eine gelungene Zeile von Goethe lesen, die Bagatellen von Brahms hören oder das Cello Casals. Davon noch einen Tag und noch einen Tag! Die Tage werden nicht reichen! Natürlich gibt es Stunden, da erreicht mich nichts. In mir gähnende Leere. Aber auch dann weiß ich, dass ich über einen Resonanzraum in mir verfüge, den die Sorgen doch nicht zubetonieren können.
Dostojewski fragt, wie man eigentlich an einem Baum vorbeigehen könne, ohne glücklich zu sein! Schön. Wahr. Gut.
Zitat Schorlemmer: »Ich bin ein zu dünnhäutiger Mensch für diese Welt.«
Aber ich will mir das Staunen nicht nehmen lassen. Es geht doch darum, den Impuls zur Veränderung der Dinge, etwa beim Schutz der Natur, nach wie vor aus dem Beglücktsein über das Wunderbare, aus der Dankbarkeit heraus zu beziehen, nicht primär aus der stirnfurchenden Sorge.
Als sei unsere Gesellschaft nicht auch ein Gewinn, ein lohnenswertes Lebensgebiet ...
Das Aufbringen von kritischer Kraft gegen die Zustände darf uns nicht die Sinne dafür töten, warum wir sie in uns aufrufen, diese Kraft. Ich rede einer Renaissance der Empfindungen das Wort.
Welcher Empfindungen?
Dem Überschwang! Dem Schönheitsrausch! Dem Schweben über den Dingen! Ich brauche für mich die Grundbegeisterung, etwas nicht fassen zu können – und deshalb Sorge zu tragen, dass es nicht angegriffen, zerstört wird! Zuerst Loblieder singen.
Friedrich Schorlemmer, wofür sind Sie dankbar?
Noch einmal: Schrecklich, wie krank die Bäume draußen vor meinem Fenster sind, aber sehen Sie doch selbst: über diesen Bäumen das tiefe samtene Himmelrot! Oder das 5. Klavierkonzert von Beethoven, in der Einspielung von Alfred Brendel – du hörst das und kannst gleichsam zusehen, wie du dich wieder aufrichtest. Auch wenn du das alles schon morgen verlieren solltest – was bleibt, inmitten aller Bitternis und Niedergeschlagenheit: Das Schöne ist dir widerfahren! Gewissermaßen »Einfür-allemal«.
Ja, und?
Es kommt wieder!