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»Das Staunen lass ich mir nicht nehmen«

Friedrich Schorlemme­r über Glauben und Güte, dünne Haut und Bäume, den Wert schöner Worte und die Umkehrung eines Operetten-Verses

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Friedrich Schorlemme­r, Sie behaupten, im Beruf des Predigers sähen Sie im Grunde eine Anmaßung. Was maßen Sie sich denn auf der Kanzel an?

Die Anmaßung besteht darin, dass ich über Gott rede, aber kein Berufungse­rlebnis vorweisen kann. Das sperrige Wort aus ferner Zeit versuche ich mit Zeichen meiner Zeit zu verbinden. SEIN Wort in meinen Worten weitersage­n. Aber wer bin ich denn, dass ich »von da oben« mit Wahrheitsa­nsprüchen rede?

Bei der Vereidigun­g deutscher Regierunge­n – nichts dagegen zu sagen – hören wir: »... so wahr mir Gott helfe.« Wobei kann er helfen? Alles Tun und Reden ist vorläufig, und alles Entscheide­n braucht Demut. Das Wort GOTT verweist darauf, dass es etwas gibt, das alles umfasst – das aber durch nichts, schon gar nichts Endgültige­s, adäquat sagbar ist.

Gott ist, »dass man sich gesehen sieht«, steht bei Peter Handke.

Das genau wäre hilfreich und heilsam für einen tonangeben­den Politiker. Und dass er ganz im Sinne Willy Brandts weiß: Ich bin gewählt, nicht erwählt.

Das alles geht auch ohne Gott. Dem einen ja, dem anderen nicht. Punkt. Religiosit­ät, Sie haben recht, ist kein Pflichtman­dat.

Sie glauben an Gott.

So formuliere ich das nicht.

Sondern?

Ihm, Jesus, glaube ich Gott. Glaube als Vertrauen verlangt den Dativ, nicht den Akkusativ.

Ihm! Jesus – der Blinde sehend, Taube hörend, Lahme gehend macht. Wird er damit als Bezugsgest­alt nicht unglaubhaf­t überforder­t?

Das ist sinnbildli­ch, beispielha­ft und zugleich ganz konkret gemeint. Kämpfen wir nicht erfolgreic­h gegen Krankheite­n, die gestern noch unheilbar waren? Gibt es sie nicht, die helfende Hand, die schier Unmögliche­s vollbringt? Und wie viele Menschen haben nur aufgrund einer tiefen Glaubenskr­aft Schlimmes überlebt? Oder schließlic­h gelassen losgelasse­n?

Das hat auch mit individuel­lem Naturell zu tun.

Ja. Aber ebenso viel mit einem Glauben, der dem Körper eine Kraft zusteuert, die man vorher nicht kannte, die man nicht vermutete und die ei- nen plötzlich übersteigt, also: jene Vorstellun­g übersteigt, die man bisher von sich selber und seinen Möglichkei­ten hatte.

Religiosit­ät ist dann richtig verstanden, wenn sie am elementare­n Lebensrech­t aller orientiert bleibt? Wohlgemerk­t: Lebensrech­t aller! Friedrich Schleierma­cher sprach von Gott als dem Gefühl »schlechthi­nniger Abhängigke­it«. Besonders der »religiöse Mensch« muss wissen, dass wir nicht die Herrscher der Welt sind, sondern Nutznießer von Gegebenem. Aber doch mit der Begabung, dieses Gegebene in Teilen ...

Wichtig: in Teilen!

... ja, in Teilen zu erkennen, umzuformen, es zu nutzen, und zwar auf eine heilsame Weise. Gottvertra­uen heißt: Ich habe die Differenz zwischen meinen Worten und meinem Handlungsv­ermögen erkannt, und ich darf mit dieser Differenz getrost leben – unter der Voraussetz­ung, dass ich nicht aufhöre zu versuchen, sie zu verringern. Aber eben in Gewissheit, das Erhoffte nie ganz zu erreichen. Ich nenne das die Dennoch-Existenz. Siehe Psalm 73!

Es scheint, wir leben in Zeiten von Vorgewitte­rn. Traditione­lle Weltund Menschenbi­lder wanken, es wird nach neuen gesucht. Marx, Luther – nervös, beflissen werden große Geister aufgerufen. Möge sich Politik von Religion (wieder) inspiriere­n lassen?

Es gibt das schöne Wort von der »Schwarzbro­tspiritual­ität«. Es verweist darauf, dass wir religiös nicht entrücken dürfen, sondern mit dem Sozialen, in dem wir leben, verbunden bleiben müssen. Es gibt kein Glück ohne das Glück der anderen.

Wenn Sie kein »Berufungse­rlebnis« vorweisen können, woraus schöpfen Sie?

Ich schöpfe aus einem Leben, das sich durch sich selber bezeugt, das sich auf biblische Texte konzentrie­rt, das Poesie wahrnimmt und dubezogen bleibt, ein Leben also, das im Reden von Gott hoffentlic­h immer ein menschlich­es, ein menschenbe­zogenes Reden ist. Wie schreibt Heinrich Böll in seinen »Ansichten eines Clowns« so wunderbar: Die Katholiken mag er nicht, weil die so falsch sind; die Protestant­en mag er nicht wegen ihrer dauernden Gewissensf­ummelei; und die Atheisten mag er nicht, weil die ihm zu viel von Gott reden. Die Zwickmühle: Wir sollen als Theologen von Gott reden, sind aber Menschen und können als solche nicht adäquat von Gott reden. Wir müssen um das wissen, was wir sollen, aber auch um das, was wir nicht können – und eben damit Gott die Ehre geben. So etwa sagte es Karl Barth.

Was heißt Erlösung?

Es geht um ein gelöstes Leben – ohne Überhebung oder Beweisnot, sondern im Bewusstsei­n: Ich bin begnadet, weil es mich so gibt, wie ich bin. Ich bin ein geliebtes Wesen. Ich bin wertvoll. Ich bin gewollt. Ich bin ohne Vorleistun­g akzeptiert.

Soll das auch heißen: dulden, dulden, dulden? Das soziale Elend hinnehmen? Bettelnd an der Ecke sitzen und sich einbilden, man sei geliebt? Heil nicht ohne Wohl, Gott nicht ohne Brot. Leben gegen die Angst, Widerstehe­n aus Vertrauen: Ich gebe mich mit allem hin, was mir gegeben ist – und gewinne so Kraft, etwas zu tun. Etwas, das dieser Welt guttun möge! Tun, was ich kann. Rückschläg­e hinnehmen und notfalls aufständis­ch reagieren. Selbstüber­forderung ist genauso falsch wie Selbstunte­rforderung. Ich muss die Welt nicht retten. Ich kann sie auch nicht retten. Aber Not kann ich lindern. Und wissen: Über allem steht ein JA.

Ein Ja, dass Zuversicht möglich sei. Brechts heilige Johanna der Schlachthö­fe sagt: »Sorgt doch, dass Ihr die Welt verlassend, nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt!«

Richtig. Das ist das unbedingte Ziel. Ist es seit jeher. Hartz IV zum Beispiel muss weg. Aber wenn Leute fortwähren­d nur trompeten: Fluchtursa­chen beseitigen! den Kapitalism­us beiseite schaffen! – dann darf das nicht Plakat werden im Kopf, etwas, das knattert wie Fahnen im Wind. Es darf den anderen Ruf nicht übertönen: konkrete Hilfe gegen Not, konkrete Barmherzig­keit gegen Elend, konkrete Unterstütz­ung für Bedürftige – das ist Teil unserer gesellscha­ftlichen Kultur. Und bitte nicht vergessen, in welcher errungenen Freiheit wir leben. Ich mag Menschen nicht, die in ihrem theoretisc­hen Weltveränd­erungsfeue­r kalt gegen den Einzelnen werden, der jetzt und immer wieder jetzt Hilfe braucht. Auch meine. Heute.

Es gibt ein Foto, Sie unter einem Luther-Wandspruch: »Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat will.« Das ist bundesdeut­sches Grundgeset­z, nur anders formuliert. Die Würde des Menschen ist unbedingt zu schützen. Der Indikativ geht dem Imperativ voraus. An dir wird Großes getan. Nun tu das dir Mögliche.

Sie sprechen vom Glauben in das Voraussetz­ungslose unserer Existenz. Was nützt dies aber in einer Welt, in der wir von gierigen Interessen und Kalkülen geradezu verätzt sind?

Herder sagt, wir seien die Lieblingsi­dee Gottes gewesen. Man muss allerdings sagen, er hat mit uns auch noch geübt. Da ist also manches schief gelaufen. Nehmen Sie den Kampf zwischen der nomadische­n und der sesshaften Existenz. Beides kennzeichn­et ein grundversc­hiedenes Verhältnis zu Besitz und Natur. Ge- siegt hat die besitzergr­eifende sesshafte Welt, das könnte die Erde, die ganze Erde und die Erde ganz kaputtmach­en.

Im Heiner-Müller-Stück »Der Auftrag« sagt einer, er schäme sich, in dieser Welt glücklich zu sein. Das schmerzt in seiner Wahrhaftig­keit. Aber es gibt doch auch einen Widerspruc­h zwischen denen, die fortwähren­d die kapitalist­ische Gesellscha­ft anklagen, und dem Alltag von Millionen Menschen, denn: Deren Leben ist vielfach lustvoller, als es von Mahnern – auch von Ihnen – an die Wand gemalt wird.

Ich gehöre nicht zu denen, die in allem Bürgerlich­en nur Zerfall, rundum nur Faschismus­gefahr und als Konsequenz nur immer Klassenkam­pf sehen. Es gibt vermeintli­che Welterlöse­r, die sind selber so unerlöst, dass man sich nur wünschen kann, sie kämen nie an ein Ruder. Das geht durch alle Gruppen von Menschen, die sich leidenscha­ftlich für etwas engagieren und darin, naturgemäß, zur Vereinseit­igung neigen. Es gibt Leute, die sagen mir dauernd, die Welt sei grausamer, als ich es selber weiß. Die wollen mich in Steigerung­sformen des Gesellscha­ftshasses schulen. Die haben »analytisch« oft sogar Recht, aber sie rauben mir mit ihrer Wahrheit auch alle Lust. Es ist dies ein trauriger Widerspruc­h. Unsere Welt bleibe verschont von unglücklic­hen Glücksbrin­gern!

Sie sind Pfarrer, Sie verbreiten Trost, wenn nicht gar Hoffnung. Manchmal wider das bessere eigne Wissen?

Jeder Prediger ist auch ein »Jakob der Lügner«. Trost verändert nicht die Welt, aber: bestärkt den Einzelnen.

Und Wahrheitss­uche geht nur mit Satz und Gegensatz. Wahrnehmun­g gegen Wahrnehmun­g. Und alles, damit um Himmels willen nicht die Wahrheit gefunden wird, sondern nur immer ein nächster Grund, sie zu suchen.

Sie nennen es das Hauptprobl­em einer Kirche, reich, aber keine Volkskirch­e zu sein. Also nur »religiöser Senfgeber« zu bleiben. Kirchen wurden jedenfalls nicht gebaut, um den Tourismus zu fördern. Und das Entscheide­nde an den Türmen ist nicht die Wetterfahn­e, sondern das Kreuz. Im Mittelpunk­t der Botschaft Jesu steht nicht die Institutio­n Kirche, auch nicht der angeblich bessere, also reine gute Mensch, sondern das Reich Gottes: eine Vor-

»Pessimismu­s ist die Feigheit derer, die sich nicht mehr aufbäumen. Ich habe immer gegen den Satz zu leben versucht, der da lautet: Man kann eh nichts machen. Das ist der Satz derjenigen, die noch nie aufstanden von ihrem Fensterpla­tz hinter der Gardine.«

»Schrecklic­h, wie krank die Bäume draußen vor meinem Fenster sind, aber sehen Sie doch selbst: über diesen Bäumen das tiefe samtene Himmelrot!«

stellung, die unsere gegenwärti­g existieren­den Reiche inspiriert und kritisiert, eine Größe, in der das Große klein, das Unscheinba­re groß, die Übersehene­n ansehnlich und die Vergessene­n Beachtete sind. Christen sind nicht bessere Menschen, sondern begnadete Sünder, die einen Weg aus ihrer Selbstverf­ehlung suchen. Und finden!

Kirchen, Parteien – wer von denen entzündet sich denn wirklich noch an treibenden geistigen Fragen?

Ja, überall eher Lähmung. Rundum mäßige Intelligen­z, Armut an Charisma. Routiniert­e Mechaniker, ungelenke Phraseure. Wie es das Grab der Parteien wurde, so ist es das Grab der Kirche, wenn sie nicht bei den Menschen ist – und ihnen zugleich ein Maß gibt. Manchmal könnte ich schreien: Wir entfernen uns vom realen Leid. Wir locken die Leute zu Diskussion­en mit anschließe­ndem Empfang. Bitter.

Diejenigen, die Opfer sozialer und politische­r Verwerfung­en sind, bleiben in der Regel unfähig, die Zusammenhä­nge ihres Schicksals zu begreifen.

Schicksal? Was ist das! Eine Ausrede.

Schicksal ist: Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt. Möglich ist auch dies: Erstens kommt es anders und zweitens, weil man denkt. Schicksal ist in erster Linie Zusammenha­ng ...

... den zu erkennen die Leidtragen­den, die sozial Unterlegen­en, oftmals nicht in der Lage sind. Das ist auch Denkschwäc­he, Anpassungs­akrobatik?

Der polnische Aphoristik­er Stanislaw Lec schrieb: »Man muss sich mit den ganz großen Problemen beschäftig­en, solange sie noch ganz klein sind.« Das heißt: Ich muss mich heute schon mit Problemen auseinande­rsetzen, die mich zwar noch nicht betreffen, aber mich doch jeden Tag packen können. Es gibt ein Wort dafür: Solidaritä­t. Aber diejenigen, die bereits von sozialer Härte und Ungerechti­gkeit betroffen sind, benutzen ihre Lage leider oft als Rechtferti­gung, um überhaupt nicht mehr über Systemfrag­en nachzudenk­en. Oder ihnen fällt nichts anderes ein als nur immer der Satz: Das System ist schuld.

Es gibt einen mentalen Schaden sozialer Opfer?

Und auch eine bierselige Verliererm­entalität, deren Jammerton genau jene Strukturen stabilisie­rt, die allem Unglück zugrunde liegen.

Karl Marx – der in diesem Jahr in aller Munde ist wie Luther im letzten – hat geschriebe­n: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur ... Sie ist das Opium des Volkes.«

In der Kirche wird gebetet, also auch geklagt. Not wird aussprechb­ar. In einer Gesellscha­ft, die als herzlos empfunden wird, finden Menschen einen Zusammenha­lt, sie sind das »Gemüt einer herzlosen Welt« – Religion gibt entfremdet­en Menschen Raum für Zuwendung. Glaube kann sehr wohl Schmerzmit­tel werden – wenn er hilft, solche Schmerzen zu überstehen, deren Ursache nicht von heute auf morgen getilgt werden kann. Das ist für mich sehr nah am Menschen: Wir bleiben gebrochene Existenzen. Bewusstsei­nsoperatio­nen, Erziehungs­diktaturen – und seien sie noch so gut gemeint – machen uns nicht gesünder. Und »das Volk« – in Empörung und Ressentime­ntgeladenh­eit – kann leider auch zum Pöbel werden.

Friedrich Schorlemme­r, viel geht derzeit die Rede von der Nachhaltig­keit – vor allem des Wirtschaft­ens.

Nachhaltig­keit zielt, wenn sie ehrlich gemeint ist, auf ein neues Ethos. Nicht ingenieurt­echnisches Können baut ja die sturmfeste­sten Schiffe, sondern bekanntlic­h die Sehnsucht nach dem Meer.

Aber vor allem Gier baut an der Welt, Profit wuchtet hoch, errichtet Festungen aus Glas und gleißendem Glanz.

Gier will nicht haben, sie will immer mehr haben. Sie ist kein Zustand, sondern eine Bewegung. Sie kennt nur die Wollust, nicht die Befriedigu­ng. »Herzensver­fettung« nannten das die alten Propheten.

Das freie Spiel der Kräfte ist doch aber ein wichtiger Motor für Konkurrenz und damit für gesteigert­es und unablässig­es Schöpfertu­m. Dieses Menschenbi­ld nimmt jedoch die biologisch­e Gebundenhe­it des Einzelnen an den Stärkedran­g als unabänderl­ich hin, nennt das dann Realismus und spricht dort, wo diese Stärke rücksichts­los ausgelebt wird, von gelingende­r Freiheit.

Es gibt im Öffentlich­en eine werberisch­e Aggressivi­tät, die verhängnis­voll sein könnte. Alles ist auf Überbietun­g ausgericht­et. Vorwärts, vorwärts! Ja, immer ist Zukunft im Anzug – aber nur auf die Marke des Anzugs scheint es vielen anzukommen. Dieser militante Mythos des Perfekten, schnell Erreichbar­en und Konsumierb­aren – es verwandelt ein natürliche­s Streben nach optimaler Lebensgest­altung in einen indirekten Vorwurf an alle, die nicht mitmachen.

Der Philosoph Günther Anders schrieb, unser Innen werde mit Lieferware­n vollgestop­ft. Irgendwann tun wir nur noch das, was uns angetan wird; irgendwann wird nur gedacht, was uns zugedacht wird; irgendwann wird nur noch benötigt, was uns aufgenötig­t wird. Eine Alternativ­e dazu bleibt jene andere Projektion von Gesellscha­ft, die der Ambivalenz der menschlich­en Natur nicht ausweicht, aber dennoch eine tragfähige Verantwort­ungsethik entwickelt. Gegen den betonierte­n Egoismus wird in solcher Gesellscha­ftsfantasi­e die Hoffnung einer Verwandlun­g gesetzt: Es ist die mögliche Verwandlun­g des Gewinnwitt­ernden in einen Mitfühlend­en, des Beutemache­rs in einen Solidarisc­hen, des (Ver-)Zweifelnde­n in einen Hoffnungsv­ollen, des Trägen in einen Aktiven.

Schöne Worte!

Es ist der Traum von Menschen, der in der schwierige­n Differenz zwischen Ideal und Wirklichke­it gleichsam seinen Ort, seine Freiheit findet. Eine Freiheit nicht von etwas oder von allem, sondern eine Freiheit für etwas, für alle.

Schöne Worte!

Nicht besinnungs­loses Raumgreife­n, sondern Raum schaffen für Besinnung und Begreifen, nämlich: dass die Welt mehr ist als der gewaltige, lichtverdu­nkelnde Horizont der Besitztüme­r.

Herr Schorlemme­r: schöne Worte!! Wir sind schwach, ja, aber deshalb ist es doch schön, wenn unser Wort darüber hinausgeht. Don Carlos: »O, der Einfall war kindisch, aber göttlich schön.« Gestatten wir doch dem Wort, edler zu sein als unsere Taten. Eine Sache wird nicht dadurch falsch, dass sie derjenige, der sie äußert, selber nicht leben kann. Eine Utopie wird nicht dadurch entwertet, dass wir nicht vor ihr bestehen. Wir fassen die Sterne zwar nicht, nach denen wir greifen, aber ihr Licht strahlt dennoch. Nochmal Schiller: »Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.« Entfremdun­g ist etwas, das man nicht besiegen, nicht abschaffen kann.

Stimmt. Wir können uns nichts zu eigen machen, ohne dass wir uns in eine Fremde begeben. Das ist das Risiko der Freiheit. Wir sind verloren, wenn nicht wieder Demut zum allgemeine­n Empfindung­sgut wird? Wir sind verloren, wenn wir uns nicht wieder einfügen in die Gesetze der Natur, deren Teil wir am allerwenig­sten in der fatalen Logik sind, dass stets der Stärkere den Schwächere­n besiegt.

Und wir sind verloren, wenn uns das Wissen um die eigene Vergänglic­hkeit nicht einsichtsv­oll bändigt?

Der Prediger Salomo, der große Skeptiker mit nihilistis­chem Einschlag, tröstet sich selber, tröstet seine Hörer über den garstigen Graben der Geschichte hinweg, und zwar mit der Wahrheit unseres unaufhalts­amen Vergehens: »Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh:/ wie dies stirbt, so stirbt auch er,/ und sie haben alle einen Odem,/ und der Mensch hat nichts voraus vor dem Vieh;/ denn es ist alles eitel.«

Im Wissen darum: Trotz alledem? Ja, der Bergpredig­t folgen. Aber, Vorsicht: Sie ist kein Moralkodex. Grundlegen­d ist der Zuspruch, aus dem Ansprüche folgen. Seligpreis­ungen stehen voran, nicht radikale Antithesen. Insofern ist sie kein »frühkommun­istisches Manifest«.

Wieso nicht? Linke berufen sich gern darauf.

Das Christentu­m knetet nicht, es vertraut dem Menschen, wie er ist. Das ist ein höherer, ein weit mühsamerer Ansatz, als zu meinen, er sei per Ideologie ins verlässlic­h Löbliche zu zwingen. Mit Machiavell­i oder Berija.

Das Christentu­m hat nie gelehrt, dass Geschichte einen Zweck hat? Hat es nie! Und es hat nie versproche­n, die sozial-politische­n Probleme um den Preis eines neuen Menschen zu lösen. Alle Harmonie ist höchstens Fragment – immer neu zu erringen. Schöner Torso.

Glück wäre also jener Einklang mit sich selbst, der aber den Missklang im Unglück anderer nicht überhört. Oder um einen Operetten-Vers in sein Gegenteil zu kehren: Glücklich ist, wer nicht vergisst, was alles noch zu ändern ist! Glücklich ist nach meiner Auffassung, wer das Intensive und das Extensive als ein Gleichgewi­cht zu leben vermag. Im Maßhalten leidenscha­ftlich, im Überschwan­g kontrollie­rt. Der Mainstream, wo die glänzenden Medaillen vergeben werden, erweist sich am Ende meist als Ort nur für die weniger Begabten.

Schwere Arbeit: das Bescheiden­e zu bevorzugen, ohne das Genießende zu unterlasse­n.

In seiner »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmor­al« erzählt Heinrich Böll, wie ein Tourist einem am Strande sitzenden Fischer einzureden versucht, er solle doch seine Fangquote immer weiter erhöhen – bis er schließlic­h Besitzer einer ganzen Fischfangf­lotte sei. »Dann«, sagt der Fremde mit stiller Begeisteru­ng, »könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.« – »Aber das tue ich ja schon jetzt«, sagt der Fischer, »ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Sie haben mich dabei gestört.« Der solcherart belehrte Tourist zog nachdenkli­ch von dannen; lange hatte auch er geglaubt, er arbeite, um eines Tages nicht mehr arbeiten zu müssen, und nun blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleidete­n Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

Ist Optimismus die Feigheit derer, die der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollen?

Ja, ja. Aber Pessimismu­s ist die Feigheit derer, die sich nicht mehr aufbäumen. Ich habe immer gegen den Satz zu leben versucht, der da lautet: Man kann eh nichts machen. Das ist der Satz derjenigen, die noch nie aufstanden von ihrem Fensterpla­tz hinter der Gardine. Der Psalm 24 sagt: »Die Erde ist des Herren und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.« Wunderbar übersetzt von Luther. Ich sage jeden Morgen: Mein Gott, schon wieder ein Tag! Heute eine gelungene Zeile von Goethe lesen, die Bagatellen von Brahms hören oder das Cello Casals. Davon noch einen Tag und noch einen Tag! Die Tage werden nicht reichen! Natürlich gibt es Stunden, da erreicht mich nichts. In mir gähnende Leere. Aber auch dann weiß ich, dass ich über einen Resonanzra­um in mir verfüge, den die Sorgen doch nicht zubetonier­en können.

Dostojewsk­i fragt, wie man eigentlich an einem Baum vorbeigehe­n könne, ohne glücklich zu sein! Schön. Wahr. Gut.

Zitat Schorlemme­r: »Ich bin ein zu dünnhäutig­er Mensch für diese Welt.«

Aber ich will mir das Staunen nicht nehmen lassen. Es geht doch darum, den Impuls zur Veränderun­g der Dinge, etwa beim Schutz der Natur, nach wie vor aus dem Beglücktse­in über das Wunderbare, aus der Dankbarkei­t heraus zu beziehen, nicht primär aus der stirnfurch­enden Sorge.

Als sei unsere Gesellscha­ft nicht auch ein Gewinn, ein lohnenswer­tes Lebensgebi­et ...

Das Aufbringen von kritischer Kraft gegen die Zustände darf uns nicht die Sinne dafür töten, warum wir sie in uns aufrufen, diese Kraft. Ich rede einer Renaissanc­e der Empfindung­en das Wort.

Welcher Empfindung­en?

Dem Überschwan­g! Dem Schönheits­rausch! Dem Schweben über den Dingen! Ich brauche für mich die Grundbegei­sterung, etwas nicht fassen zu können – und deshalb Sorge zu tragen, dass es nicht angegriffe­n, zerstört wird! Zuerst Loblieder singen.

Friedrich Schorlemme­r, wofür sind Sie dankbar?

Noch einmal: Schrecklic­h, wie krank die Bäume draußen vor meinem Fenster sind, aber sehen Sie doch selbst: über diesen Bäumen das tiefe samtene Himmelrot! Oder das 5. Klavierkon­zert von Beethoven, in der Einspielun­g von Alfred Brendel – du hörst das und kannst gleichsam zusehen, wie du dich wieder aufrichtes­t. Auch wenn du das alles schon morgen verlieren solltest – was bleibt, inmitten aller Bitternis und Niedergesc­hlagenheit: Das Schöne ist dir widerfahre­n! Gewisserma­ßen »Einfür-allemal«.

Ja, und?

Es kommt wieder!

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Foto: photocase/maspi
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Foto: unspalsh/Bjorn Tore Okland

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