Im Schleichgang
Auf Jakartas Straßen geht es nur im Schritttempo voran.
Jakarta gilt als Hauptstadt der Staus. Jeder Versuch, den Verkehr in den Griff zu bekommen, scheiterte. Obwohl das Fahrgemeinschaftssystem HOV jahrelang gut funktionierte, schaffte es die Regierung ab.
Kampung Aquarium, ein Slum am Fischereihafen von Jakarta, ist ein Trümmerfeld. Basuki Tjahaja Ahok Purnama, ehemaliger Gouverneur der indonesischen Hauptstadt, hat das Armenviertel 2016 unter dem Schutz von 4000 Soldaten mit Bulldozern plattgemacht und dabei 398 Familien vertrieben. Die meisten der gewaltsam Verdrängten wurden in weit entfernte Sozialwohnungen umgesiedelt. Ibu Lis ist geblieben, sie hat sich mit ihrem Mann Saiman aus Sperrholzplatten, Wellblech und Bambus eine neue Hütte gebaut. Einige andere sind inzwischen zurückgekehrt, leben in Zelten oder Holzverschlägen. Dazwischen streunen magere Katzen, gackern Hühner, lassen Väter mit ihren Kindern Drachen steigen.
Trotz des Elends ist die Begegnung mit der 58-Jährigen erfrischend. Die Frau im geblümten Kleid strotzt vor Lebensfreude und vor Entschlossenheit, für ihre Rechte zu kämpfen. Als es Zeit wird zu gehen, will Ibu Lis mir ein Mopedtaxi rufen. Ich wehre ab. Ein Autotaxi ist mir lieber. Die Vorstellung, die zehn Kilometer bis zu meinem Hotel in Menteng im Zentrum Jakartas der tropischen Hitze, der verdreckten Luft und dem Lärm als Beifahrer auf einem Moped ausgesetzt zu sein, behagte mir gar nicht. Ibu Lis aber rät eindringlich: »Es ist Spätnachmittag, also Rush Hour. Mit einem Mopedtaxi bist du besser bedient.« Also auf in den Stau.
20 Jahre lang – von 1996 bis 2016 – funktionierte in Jakarta ein staatlich verordnetes Fahrgemeinschaftssystem, das »High-occupancy vehicle« (HOV). Die simple Idee dahinter: Mindestens drei Pendler mussten eine Fahrgemeinschaft bilden, wenn sie zu bestimmten Uhrzeiten auf den großen Straßen in die Innenstadt wollten. Das reduzierte den Verkehr dort erheblich. Vor zwei Jahren jedoch schafften die Stadtväter das System aus heiterem Himmel ab. Dass es tatsächlich funktionierte, hat eine Studie des US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) offenbart: Die beteiligten Wirtschaftswissenschaftler stellen dem HOV ein gutes Zeugnis aus: »Ohne eine HOVPolitik wird der urbane Verkehr viel, viel schlimmer.«
Das HOV-System war in der Bevölkerung Jakartas allerdings nie beliebt und geriet vor allem durch sogenannte Jockeys in Verruf. So wurden die jungen, armen Männer bezeichnet, die gegen ein Entgelt von weniger als einem Euro als Beifahrer angeheuert werden konnten. Einerseits wurde so dem System ein Schnippchen geschlagen. Andererseits war der Erfolg von HOV für die Menschen nicht mehr unmittelbar erfahrbar. »HOV hat nichts gebracht. Die Staus sind nicht verschwunden«, ist sich Mohammed Hafizh Ibrahim sicher. Diese Erfahrung macht der neunzehnjährige Psychologiestudent jeden Tag, wenn er mit dem Moped die 25 Kilometer von der nahe gelegenen Großstadt Bekasi zur Uni in Jakarta fährt.
Das MIT-Forscherteam um Professor Ben Olken, Gabriel Kreindler und Rema Hanna ist bei wissenschaftlicher Betrachtung dagegen zu einem anderen Schluss gekommen: »Nach dem Ende des HOV sank die durchschnittliche Geschwindigkeit während der Rush Hour in Jakarta morgens von 17 Meilen pro Stunde (10,5 Kilometer pro Stunde) auf 12 Meilen pro Stunde und abends von 13 auf sieben Meilen pro Stunde. Zum Vergleich: Ein Fußgänger schafft rund drei Meilen pro Stunde.«
Die abrupte Einstellung des HOV durch Jakartas Verwaltung bot den Wissenschaftlern die einmalige Chance einer vergleichenden VorherNachher-Studie. »Wir konnten sofort mit dem Sammeln von Verkehrsdaten beginnen. Innerhalb von 48 Stunden nach der Ankündigung (der Einstellung des HOV, Anm. d. Red.) konnten wir mit unseren Computern kontinuierlich alle zehn Minuten über Google Maps auf bestimmen Straßen in Jakarta die aktuelle Verkehrsgeschwindigkeit überprüfen«, heißt es in der Studie. »So waren wir schnell in der Lage, in Echtzeit die Verkehrsbedingungen zu erfassen, als HOV noch in Kraft war. Dann verglichen wir die Änderungen im Verkehr vorher und nachher«, schreiben die Wissenschaftler in der Untersuchung, die im Wissenschaftsmagazin »Science« veröffentlicht wurde, weiter.
Bei der Auswertung der Daten wurde schnell klar, dass der Verkehr und die Staus nach dem Ende des HOV schlimmer geworden sind. Die genauen Ursachen müssten jedoch noch erforscht werden, so die Wissenschaftler. Allerdings spekulieren sie über mögliche Faktoren, die zu den Änderungen beigetragen haben könnten. Die Zahl der Autos auf den Straßen könnte schlicht und einfach zugenommen haben. Die andere Theorie heißt Hyperstau. Um den Megastaus auf den großen Straßen zu entkommen, wei-
chen die Fahrer verstärkt auf Seitenstraßen aus – mit der Folge, dass auch diese verstopfen.
Im Stau zu stehen ist nicht nur nervig für die unmittelbar Betroffenen. Staus verursachen in Jakarta und den anderen Megastädten Asiens immense Schäden für Wirtschaft und Gesundheit. Die Region Greater Jakarta auf Java mit Städten wie Bogor, Tangerang, Depok, Bekasi und Jakarta selbst zählt 30 Millionen Menschen, die mit über 16 Millionen Fahrzeugen die Straßen der Region verstopfen. Laut einer Studie der Weltbank vergrößert das Wachstum der städtischen Bevölkerung das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Länder – in Thailand und Vietnam etwa steigt das BIP um acht bis zehn Prozent, wenn ein Prozent mehr Menschen in den Städten leben. In China sind es immerhin noch sechs Prozent BIP-Steigerung, in Indonesien aber führt das rasante Wachstum der Stadtbevölkerung nur zu mageren zwei Prozent mehr Wirtschaftsleistung.
Dafür wirkt sich das urbane Wachstum auf die Gesundheit aus: Wie die indonesische Umweltorganisation für Umwelt, saubere Luft und bleifreies Benzin (KPBB) herausfand, leiden 58 Prozent der Einwohner Jakartas an durch die immense Luftverschmutzung verursachten Atemwegs-, Kreislauf- und Herzerkrankungen.
Dabei mangelt es in Jakarta nicht an Maßnahmen und Ideen zur Bewältigung des Verkehrs. Es gibt für Busse reservierte Fahrbahnen; vor kurzem wurde – endlich – mit dem Bau einer U-Bahn begonnen; anstelle des HOV wurde verfügt, dass zu bestimmten Zeiten nur Autos mit bestimmten Nummernschildern in die Innenstadt fahren dürfen. Das scheint nach ersten Eindrücken aber eher den Trend zum Zweitauto zu verstärken – damit für jede Gelegenheit das passende Nummernschild vorhanden ist. Einige verkehrspolitische Entscheidungen des neuen Gouverneurs Anies Baswedan werden dennoch mit Stirnrunzeln gesehen. So hat er kürzlich erst das Mopedverbot auf den großen Magistralen wie der Thamrin-Straße aufgehoben, das sein Vorgänger Basuki Tjahaja Purnama verhängt hatte, und zudem wieder Rikschas auf den Straßen Jakartas erlaubt.
Eines der zahlreichen großen urbanen Probleme Jakartas ist Platz. Um das knappe öffentliche Gut »Raum« konkurrieren Straßenhändler, Garküchen und Fußgänger mit den Bauherren von Bürotürmen, Apartmenthäusern, Luxushotels und Shopping Malls. Auf der sechsspurigen Thamrin-Straße im Zentrum Jakartas stehen zu den Stoßzeiten Zigtausende Autos Stoßstange an Stoßstange.
Die mit einem mehr als zwei Meter hohen Metallzaun von der ThamrinStraße abgeschirmte zweispurige Privatstraße vor einem Fünf-Sterne-Hotel hingegen ist herrlich leer. Hotels, Bürohäuser, Shopping Malls beanspruchen ganz selbstverständlich rund um ihre Anwesen »Platz« für ihre Klientel und deren Autos. »Öffentlicher Raum ist zu einer Ware geworden«, klagt Marco Kusumawijaya, Direktor des unabhängigen RUJAK Center for Urban Studies in Jakarta.
Weltweit bemühen sich die Städte, das Verkehrsaufkommen in ihren Zentren zu regulieren. Das Hightechverliebte Singapur etwa setzt auf ein elektronisches Mautsystem: Wer zu bestimmten Zeiten mit dem Auto in die Innenstadt will, muss dafür zahlen. Die MIT-Forscher räumen ein, dass durch solche Systeme das Verkehrsaufkommen gelenkt und eingedämmt werden kann. Sie geben aber zu bedenken: »Das ist unter Autofahrern, die bisher an kostenlosen Zugang gewöhnt waren, unpopulär und die Kosten treffen unverhältnismäßig hart die Armen.«
Deshalb brechen die Wissenschaftler eine Lanze für den HOV, auch wenn sie zu Recht betonen, dass die Effektivität von vielen Faktoren – wie der Beschaffenheit der urbanen Landschaft oder dem Ausbaugrad des öffentlichen Nahverkehrs – abhängt. »Trotzdem sollte das Ergebnis vor allem wegen seiner niedrigen Kosten – egal, ob man es auf ganzen Straßen oder bestimmten Spuren großer Straßen umsetzt – von unmittelbarem Interesse für Stadtplaner und politische Entscheidungsträger sein«, lautet das Fazit der Studie. »Alles, was eine Stadt dazu braucht, sind ein paar Schilder, etwas Farbe für Markierungen und die Durchsetzung dieser Politik.«
Ibu Lis hatte übrigens Recht: Die ganzen zehn Kilometer bis zum Hotel sehen wir nur Autos, Autos, Autos. Dazwischen drängeln sich Mopeds, Mopeds, Mopeds. Zäh quillt die Blechlawine durch Jakarta. Nach einer Stunde und zehn Minuten bin ich endlich im Hotel. 70 Minuten für zehn Kilometer – das gilt in Jakarta zur Rush Hour noch als zügig.
»Nach dem Ende des HOV sank die durchschnittliche Geschwindigkeit während der Rush Hour in Jakarta morgens von 17 Meilen pro Stunde auf 12 Meilen pro Stunde.« Aus der MIT-Studie