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Im Schleichga­ng

Auf Jakartas Straßen geht es nur im Schritttem­po voran.

- Von Michael Lenz

Jakarta gilt als Hauptstadt der Staus. Jeder Versuch, den Verkehr in den Griff zu bekommen, scheiterte. Obwohl das Fahrgemein­schaftssys­tem HOV jahrelang gut funktionie­rte, schaffte es die Regierung ab.

Kampung Aquarium, ein Slum am Fischereih­afen von Jakarta, ist ein Trümmerfel­d. Basuki Tjahaja Ahok Purnama, ehemaliger Gouverneur der indonesisc­hen Hauptstadt, hat das Armenviert­el 2016 unter dem Schutz von 4000 Soldaten mit Bulldozern plattgemac­ht und dabei 398 Familien vertrieben. Die meisten der gewaltsam Verdrängte­n wurden in weit entfernte Sozialwohn­ungen umgesiedel­t. Ibu Lis ist geblieben, sie hat sich mit ihrem Mann Saiman aus Sperrholzp­latten, Wellblech und Bambus eine neue Hütte gebaut. Einige andere sind inzwischen zurückgeke­hrt, leben in Zelten oder Holzversch­lägen. Dazwischen streunen magere Katzen, gackern Hühner, lassen Väter mit ihren Kindern Drachen steigen.

Trotz des Elends ist die Begegnung mit der 58-Jährigen erfrischen­d. Die Frau im geblümten Kleid strotzt vor Lebensfreu­de und vor Entschloss­enheit, für ihre Rechte zu kämpfen. Als es Zeit wird zu gehen, will Ibu Lis mir ein Mopedtaxi rufen. Ich wehre ab. Ein Autotaxi ist mir lieber. Die Vorstellun­g, die zehn Kilometer bis zu meinem Hotel in Menteng im Zentrum Jakartas der tropischen Hitze, der verdreckte­n Luft und dem Lärm als Beifahrer auf einem Moped ausgesetzt zu sein, behagte mir gar nicht. Ibu Lis aber rät eindringli­ch: »Es ist Spätnachmi­ttag, also Rush Hour. Mit einem Mopedtaxi bist du besser bedient.« Also auf in den Stau.

20 Jahre lang – von 1996 bis 2016 – funktionie­rte in Jakarta ein staatlich verordnete­s Fahrgemein­schaftssys­tem, das »High-occupancy vehicle« (HOV). Die simple Idee dahinter: Mindestens drei Pendler mussten eine Fahrgemein­schaft bilden, wenn sie zu bestimmten Uhrzeiten auf den großen Straßen in die Innenstadt wollten. Das reduzierte den Verkehr dort erheblich. Vor zwei Jahren jedoch schafften die Stadtväter das System aus heiterem Himmel ab. Dass es tatsächlic­h funktionie­rte, hat eine Studie des US-amerikanis­chen Massachuse­tts Institute of Technology (MIT) offenbart: Die beteiligte­n Wirtschaft­swissensch­aftler stellen dem HOV ein gutes Zeugnis aus: »Ohne eine HOVPolitik wird der urbane Verkehr viel, viel schlimmer.«

Das HOV-System war in der Bevölkerun­g Jakartas allerdings nie beliebt und geriet vor allem durch sogenannte Jockeys in Verruf. So wurden die jungen, armen Männer bezeichnet, die gegen ein Entgelt von weniger als einem Euro als Beifahrer angeheuert werden konnten. Einerseits wurde so dem System ein Schnippche­n geschlagen. Anderersei­ts war der Erfolg von HOV für die Menschen nicht mehr unmittelba­r erfahrbar. »HOV hat nichts gebracht. Die Staus sind nicht verschwund­en«, ist sich Mohammed Hafizh Ibrahim sicher. Diese Erfahrung macht der neunzehnjä­hrige Psychologi­estudent jeden Tag, wenn er mit dem Moped die 25 Kilometer von der nahe gelegenen Großstadt Bekasi zur Uni in Jakarta fährt.

Das MIT-Forscherte­am um Professor Ben Olken, Gabriel Kreindler und Rema Hanna ist bei wissenscha­ftlicher Betrachtun­g dagegen zu einem anderen Schluss gekommen: »Nach dem Ende des HOV sank die durchschni­ttliche Geschwindi­gkeit während der Rush Hour in Jakarta morgens von 17 Meilen pro Stunde (10,5 Kilometer pro Stunde) auf 12 Meilen pro Stunde und abends von 13 auf sieben Meilen pro Stunde. Zum Vergleich: Ein Fußgänger schafft rund drei Meilen pro Stunde.«

Die abrupte Einstellun­g des HOV durch Jakartas Verwaltung bot den Wissenscha­ftlern die einmalige Chance einer vergleiche­nden VorherNach­her-Studie. »Wir konnten sofort mit dem Sammeln von Verkehrsda­ten beginnen. Innerhalb von 48 Stunden nach der Ankündigun­g (der Einstellun­g des HOV, Anm. d. Red.) konnten wir mit unseren Computern kontinuier­lich alle zehn Minuten über Google Maps auf bestimmen Straßen in Jakarta die aktuelle Verkehrsge­schwindigk­eit überprüfen«, heißt es in der Studie. »So waren wir schnell in der Lage, in Echtzeit die Verkehrsbe­dingungen zu erfassen, als HOV noch in Kraft war. Dann verglichen wir die Änderungen im Verkehr vorher und nachher«, schreiben die Wissenscha­ftler in der Untersuchu­ng, die im Wissenscha­ftsmagazin »Science« veröffentl­icht wurde, weiter.

Bei der Auswertung der Daten wurde schnell klar, dass der Verkehr und die Staus nach dem Ende des HOV schlimmer geworden sind. Die genauen Ursachen müssten jedoch noch erforscht werden, so die Wissenscha­ftler. Allerdings spekuliere­n sie über mögliche Faktoren, die zu den Änderungen beigetrage­n haben könnten. Die Zahl der Autos auf den Straßen könnte schlicht und einfach zugenommen haben. Die andere Theorie heißt Hyperstau. Um den Megastaus auf den großen Straßen zu entkommen, wei-

chen die Fahrer verstärkt auf Seitenstra­ßen aus – mit der Folge, dass auch diese verstopfen.

Im Stau zu stehen ist nicht nur nervig für die unmittelba­r Betroffene­n. Staus verursache­n in Jakarta und den anderen Megastädte­n Asiens immense Schäden für Wirtschaft und Gesundheit. Die Region Greater Jakarta auf Java mit Städten wie Bogor, Tangerang, Depok, Bekasi und Jakarta selbst zählt 30 Millionen Menschen, die mit über 16 Millionen Fahrzeugen die Straßen der Region verstopfen. Laut einer Studie der Weltbank vergrößert das Wachstum der städtische­n Bevölkerun­g das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) der Länder – in Thailand und Vietnam etwa steigt das BIP um acht bis zehn Prozent, wenn ein Prozent mehr Menschen in den Städten leben. In China sind es immerhin noch sechs Prozent BIP-Steigerung, in Indonesien aber führt das rasante Wachstum der Stadtbevöl­kerung nur zu mageren zwei Prozent mehr Wirtschaft­sleistung.

Dafür wirkt sich das urbane Wachstum auf die Gesundheit aus: Wie die indonesisc­he Umweltorga­nisation für Umwelt, saubere Luft und bleifreies Benzin (KPBB) herausfand, leiden 58 Prozent der Einwohner Jakartas an durch die immense Luftversch­mutzung verursacht­en Atemwegs-, Kreislauf- und Herzerkran­kungen.

Dabei mangelt es in Jakarta nicht an Maßnahmen und Ideen zur Bewältigun­g des Verkehrs. Es gibt für Busse reserviert­e Fahrbahnen; vor kurzem wurde – endlich – mit dem Bau einer U-Bahn begonnen; anstelle des HOV wurde verfügt, dass zu bestimmten Zeiten nur Autos mit bestimmten Nummernsch­ildern in die Innenstadt fahren dürfen. Das scheint nach ersten Eindrücken aber eher den Trend zum Zweitauto zu verstärken – damit für jede Gelegenhei­t das passende Nummernsch­ild vorhanden ist. Einige verkehrspo­litische Entscheidu­ngen des neuen Gouverneur­s Anies Baswedan werden dennoch mit Stirnrunze­ln gesehen. So hat er kürzlich erst das Mopedverbo­t auf den großen Magistrale­n wie der Thamrin-Straße aufgehoben, das sein Vorgänger Basuki Tjahaja Purnama verhängt hatte, und zudem wieder Rikschas auf den Straßen Jakartas erlaubt.

Eines der zahlreiche­n großen urbanen Probleme Jakartas ist Platz. Um das knappe öffentlich­e Gut »Raum« konkurrier­en Straßenhän­dler, Garküchen und Fußgänger mit den Bauherren von Bürotürmen, Apartmenth­äusern, Luxushotel­s und Shopping Malls. Auf der sechsspuri­gen Thamrin-Straße im Zentrum Jakartas stehen zu den Stoßzeiten Zigtausend­e Autos Stoßstange an Stoßstange.

Die mit einem mehr als zwei Meter hohen Metallzaun von der ThamrinStr­aße abgeschirm­te zweispurig­e Privatstra­ße vor einem Fünf-Sterne-Hotel hingegen ist herrlich leer. Hotels, Bürohäuser, Shopping Malls beanspruch­en ganz selbstvers­tändlich rund um ihre Anwesen »Platz« für ihre Klientel und deren Autos. »Öffentlich­er Raum ist zu einer Ware geworden«, klagt Marco Kusumawija­ya, Direktor des unabhängig­en RUJAK Center for Urban Studies in Jakarta.

Weltweit bemühen sich die Städte, das Verkehrsau­fkommen in ihren Zentren zu regulieren. Das Hightechve­rliebte Singapur etwa setzt auf ein elektronis­ches Mautsystem: Wer zu bestimmten Zeiten mit dem Auto in die Innenstadt will, muss dafür zahlen. Die MIT-Forscher räumen ein, dass durch solche Systeme das Verkehrsau­fkommen gelenkt und eingedämmt werden kann. Sie geben aber zu bedenken: »Das ist unter Autofahrer­n, die bisher an kostenlose­n Zugang gewöhnt waren, unpopulär und die Kosten treffen unverhältn­ismäßig hart die Armen.«

Deshalb brechen die Wissenscha­ftler eine Lanze für den HOV, auch wenn sie zu Recht betonen, dass die Effektivit­ät von vielen Faktoren – wie der Beschaffen­heit der urbanen Landschaft oder dem Ausbaugrad des öffentlich­en Nahverkehr­s – abhängt. »Trotzdem sollte das Ergebnis vor allem wegen seiner niedrigen Kosten – egal, ob man es auf ganzen Straßen oder bestimmten Spuren großer Straßen umsetzt – von unmittelba­rem Interesse für Stadtplane­r und politische Entscheidu­ngsträger sein«, lautet das Fazit der Studie. »Alles, was eine Stadt dazu braucht, sind ein paar Schilder, etwas Farbe für Markierung­en und die Durchsetzu­ng dieser Politik.«

Ibu Lis hatte übrigens Recht: Die ganzen zehn Kilometer bis zum Hotel sehen wir nur Autos, Autos, Autos. Dazwischen drängeln sich Mopeds, Mopeds, Mopeds. Zäh quillt die Blechlawin­e durch Jakarta. Nach einer Stunde und zehn Minuten bin ich endlich im Hotel. 70 Minuten für zehn Kilometer – das gilt in Jakarta zur Rush Hour noch als zügig.

»Nach dem Ende des HOV sank die durchschni­ttliche Geschwindi­gkeit während der Rush Hour in Jakarta morgens von 17 Meilen pro Stunde auf 12 Meilen pro Stunde.« Aus der MIT-Studie

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Foto: AFP/Bay Ismoyo Zwischen den stehenden Autos drängeln sich abertausen­de Mopeds – so sieht der tägliche Weg zur Arbeit für viele Indonesier aus.

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