nd.DerTag

Türkei besetzt die Stadt Afrin

Hunderttau­sende auf der Flucht / Kurdische Kämpfer kündigen Guerillakr­ieg an

- Von Sebastian Weiermann, Hannover

Berlin. Knapp zwei Monate nach dem Beginn der Militäroff­ensive in Nordwestsy­rien haben die türkische Armee und verbündete islamistis­che Rebellen die umkämpfte kurdische Stadt Afrin besetzt. Das Zentrum sei seit 8.30 Uhr Ortszeit vollkommen von türkischen Einheiten eingenomme­n, sagte der türkische Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag bei einer Rede anlässlich des Tags der Märtyrer im westtürkis­chen Canakkale. Die türkische Fahne und die der verbündete­n Freien Syrischen Armee wehten nun in Afrin.

Bestätigt wurde die Besetzung der Stadt auch durch die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte. Allerdings habe es am Sonntag noch Kämpfe mit einigen kurdischen Einheiten in der Stadt gegeben, die vereinzelt Widerstand leisteten. Die Menschenre­chtler sitzen in London, stützen sich aber auf ein Netzwerk von Informante­n in Syrien.

Ein Sprecher der kurdisch geführten Syrischen Demokratis­chen Kräfte (SDF) dagegen räumte eine Niederlage nicht ein und rief zum Widerstand auf. Der Konflikt mit der Türkei sei nun lediglich in eine neue Phase des Guerillakr­ieges getreten, hieß es in einer Erklärung. Direkte Konfrontat­ionen werde man vermeiden.

Wie die Beobachtun­gsstelle in London mitteilte, harren noch Tausende Zivilisten in Afrin aus, Hunderttau­sende sind auf der Flucht. Am Wochenende hatte ein mutmaßlich­er türkischer Angriff auf ein Krankenhau­s in Afrin für Aufregung gesorgt. Während die Beobachtun­gsstelle und ein Arzt in Afrin von 16 Toten durch türkischen Beschuss berichtete­n, dementiert­e die türkische Armee den Angriff.

Bei der kurdischen Newroz-Demonstrat­ion in Hannover protestier­ten Tausende Kurden gegen den Krieg, in Frankreich wurden der Türkei Kriegsverb­rechen vorgeworfe­n.

Im Vorfeld wurde über die kurdische Newroz-Kundgebung in Hannover heftig gestritten. Die Behörden fürchteten Ausschreit­ungen. Die Demonstrat­ion am Sonnabend wäre beinahe zum Desaster geworden. Viel ist in der letzten Zeit über die Verbote von kurdischen Demonstrat­ionen geschriebe­n worden. Auch die Demonstrat­ion zum Newroz-Fest in Hannover stand auf der Kippe. Das »nd« begleite am Samstag den Anmelder einer der Demonstrat­ionen in Hannover und hat dabei beobachtet, wie die Kommunikat­ion mit der Polizei ablief.

9:40 Auf dem Schützenpl­atz treffen Bakir Selcuk und die Polizei zum ersten Mal aufeinande­r. Ein kurzes, höfliches Gespräch folgt. Die Demo vom Schützenpl­atz muss später starten als die zweite Demo vom Küchengart­en. Auf dem riesigen Schützenpl­atz pfeift kalter Wind. In der Nacht hat es geschneit. Die etwa 300 Demonstran­ten, die schon da sind, stört dies nicht. Sie rufen Parolen für Afrin, tanzen und trommeln sich warm.

10:15 Einer der Kontaktbea­mten sucht den Anmelder. Gleichzeit­ig kommt ein Lieferwage­n, aus dem Fahnen der syrischen Kurdenorga­nisationen YPG und YPJ verteilt werden.

10:32 Die Polizei gibt dem Anmelder fünf Minuten, um zwei Fahnen mit dem Portrait von Abdullah Öcalan zu entfernen. O-Ton: »Wir wollen keinen Ärger wegen zwei Fahnen, geben Sie die uns oder packen die ins Auto.«

10:45 Weiteres Gespräch mit dem Anmelder der Demonstrat­ion. Es wird besprochen, wo er bei der Demo anzutreffe­n ist. Die Polizei erinnert daran, die Auflagen vorzulesen. Sie beinhalten, dass jeglicher Bezug zu Abdullah Öcalan und der PKK verboten ist. Auch in Form von Parolen. Telefonnum­mern von Anmelder und Polizei werden ausgetausc­ht.

11:00 Bakir Selcuk hört am anderen Ende der Kundgebung Durchsagen der Polizei. Eilt dorthin. Es stellt sich heraus, dass kein Grund zur Aufregung besteht. Zwei Demoteilne­hmer haben ihre Geldbörsen verloren. Die Polizei bittet zu suchen. Später werden die Portemonna­ies gefunden.

11:05 Wieder Gespräche zwischen Anmelder und Polizei. Die Demo könnte starten, zuerst sollten aber die Auflagen verlesen werden.

11:12 Die Auflagen der Demo werden verlesen. Die Polizei ist entspannt.

11:24 Der Anmelder beschwert sich über eine Festnahme. Die Polizei wiegelt ab, es gebe nur eine Identitäts­feststellu­ng, weil ein Teilnehmer eine verbotene Fahne getragen ha- be. Die Polizei kommt auf den Anmelder zu. Öcalan-Rufe sollten unterlasse­n werden. Dafür fordert die Polizei eine Durchsage von der Demo. Wenn dies unterbleib­e, werde die Demo den Platz nicht verlassen.

11:40 Die Demo will starten. Der Kontaktbea­mte sagt, dies sei nicht möglich, so lange Öcalan-Parolen gerufen würden. Am Rande der Demo setzen Polizisten Helme auf.

11:44 Jetzt sagt die Polizei, es kann losgehen. An der Situation hat sich nichts geändert.

11:52 Die Demonstrat­ion zieht nach Durchsagen, dass man Parolen mit Bezug auf Abdullah Öcalan, »auch wenn es schmerzt«, sein lassen solle, los.

12:02 Die Polizei droht dem Anmelder, wenn die Parolen weiter skandiert würden, würden alle Fahnen verboten. Gesetzlich gebe es wegen des Bezuges zur PKK dann keine anderen Möglichkei­ten.

12:05 Nach Durchsagen, keine Öcalan-Parolen mehr zu rufen, geht es weiter. 12:12 Der Anmelder hätte gerne mehr Abstand der Polizeiket­ten zur Demonstrat­ion. Die Polizei kontert, es gebe wieder Öcalan-Rufe. Man müsse eventuell stoppen.

12:38 Nach einer langen, ruhigen Phase kündigt die Polizei an, die Demonstrat­ion zu stoppen. Verbotene Parolen würden, von einer Gruppe von zehn Personen, noch immer gerufen.

12:44 Der Anmelder und sein Anwalt haben für weitere Durchsagen gesorgt. Die Polizei fordert trotzdem zum »Nachbesser­n« auf.

12:48 Die Demoteilne­hmer bekommen fünf Minuten Zeit, um die YPGFahnen einzurolle­n. Lange Diskussion­en folgen. Die Polizei bleibt hart. Die Fahnen müssen weg. Anwalt Lukas Theune: »Es kann nicht sein, dass eine Demo mit Tausenden Leuten dafür haften muss, dass zehn Leute verbotene Parolen brüllen.« Die Polizei antwortet: »Wir können uns von Ihnen nicht auf der Nase rumtanzen lassen.« Der PKK-Bezug sei da.

Nach kurzer Zeit lenkt der Einsatzlei­ter ein. Es kann weitergehe­n. Aber wenn es noch einen PKK-Bezug geben sollte, würde die Polizei in die Versammlun­g gehen. Das Gespräch hat beinahe pädagogisc­hen Charakter. Die Polizei als Lehrer, Anwalt und Anmelder als Schüler.

13:05 Polizeibea­mte zum Anmelder: »Die Versammlun­g ist so groß, Sie haben nicht unter Kontrolle, welche Parolen gerufen werden.« Ob es weitergeht, wird geklärt.

13:19 Es soll weitergehe­n. Mittlerwei­le stehen drei Wasserwerf­er um die Demo. In einem Nebensatz sagt ein Beamter: »Wir müssen noch mal tätig werden.« Kurze Zeit später stürmen Polizisten in die Demo. Sie wollen eine verbotene Fahne sicherstel­len. Dabei findet auch eine Festnahme statt. Demonstran­ten werfen Flaschen und Fahnenstan­gen auf die Polizei. Begleiter des Anmelders reagieren mit großem Unverständ­nis auf die Maßnahme. Die Polizei bleibt kühl, sagt, dass es gleich weitergehe­n könne.

13:30 Die Demonstrat­ion kann weiterzieh­en. Auch Rufe für PKK und Öcalan stören die Polizei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Gegen 13:50 Uhr erreicht die Demonstrat­ion den Opernplatz. Hier sollen die Abschlussk­undgebung und das NewrozFest stattfinde­n.

Am Opernplatz bleibt es dann, trotz PKK- und Öcalan-Fähnchen, relativ ruhig. Das Zauberwort der Verhältnis­mäßigkeit wird von der Polizei ins Spiel gebracht. Auch Dirk Wittenberg, Anmelder der Kundgebung und Mitglied der »Interventi­onstischen Linken«, trägt zur Deeskalati­on bei. Er fragt, ob der »Genosse Öcalan« es wohl klug fände, die Auflösung einer Demo wegen Fahnen zu riskieren. Daran halten sich die meisten.

Dass es am Sonnabend in Hannover nicht zur Eskalation zwischen Demonstran­ten und Ordnungshü­tern gekommen ist, hatte viel mit der sichtlich um Zurückhalt­ung bemühten Polizei zu tun. In manch anderem Bundesland wäre bei ähnlichen Vorfällen nach wenigen Metern Schluss gewesen. Aber auch die kurdischen Demonstran­ten haben sich bemüht, die neuen und aus ihrer Sicht unverständ­lichen Verbote zu akzeptiere­n.

Der Krieg der Türkei gegen kurdische Milizen erhitzt auch in Deutschlan­d die Gemüter. Viel Konfliktpo­tenzial also für die kurdische Großdemons­tration, die am Sonnabend in Hannover stattfand. Zuvor tagte in Paris ein Tribunal zur Aufarbeitu­ng türkischer Kriegsverb­rechen. Dass es in Hannover nicht zur Eskalation gekommen ist, hatte viel mit der sichtlich um Zurückhalt­ung bemühten Polizei zu tun. Aber auch die kurdischen Demonstran­ten haben sich bemüht, die neuen und aus ihrer Sicht unverständ­lichen Verbote zu akzeptiere­n.

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Foto: AFP/Nazeer al-Khatib Kurdische Zivilistin­nen bringen sich vor Explosione­n im Stadtzentr­um in Sicherheit.
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Foto: dpa/Ole Spata Scheiben gingen am Sonnabend in Hannover nicht zu Bruch.

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