Türkei besetzt die Stadt Afrin
Hunderttausende auf der Flucht / Kurdische Kämpfer kündigen Guerillakrieg an
Berlin. Knapp zwei Monate nach dem Beginn der Militäroffensive in Nordwestsyrien haben die türkische Armee und verbündete islamistische Rebellen die umkämpfte kurdische Stadt Afrin besetzt. Das Zentrum sei seit 8.30 Uhr Ortszeit vollkommen von türkischen Einheiten eingenommen, sagte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag bei einer Rede anlässlich des Tags der Märtyrer im westtürkischen Canakkale. Die türkische Fahne und die der verbündeten Freien Syrischen Armee wehten nun in Afrin.
Bestätigt wurde die Besetzung der Stadt auch durch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Allerdings habe es am Sonntag noch Kämpfe mit einigen kurdischen Einheiten in der Stadt gegeben, die vereinzelt Widerstand leisteten. Die Menschenrechtler sitzen in London, stützen sich aber auf ein Netzwerk von Informanten in Syrien.
Ein Sprecher der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) dagegen räumte eine Niederlage nicht ein und rief zum Widerstand auf. Der Konflikt mit der Türkei sei nun lediglich in eine neue Phase des Guerillakrieges getreten, hieß es in einer Erklärung. Direkte Konfrontationen werde man vermeiden.
Wie die Beobachtungsstelle in London mitteilte, harren noch Tausende Zivilisten in Afrin aus, Hunderttausende sind auf der Flucht. Am Wochenende hatte ein mutmaßlicher türkischer Angriff auf ein Krankenhaus in Afrin für Aufregung gesorgt. Während die Beobachtungsstelle und ein Arzt in Afrin von 16 Toten durch türkischen Beschuss berichteten, dementierte die türkische Armee den Angriff.
Bei der kurdischen Newroz-Demonstration in Hannover protestierten Tausende Kurden gegen den Krieg, in Frankreich wurden der Türkei Kriegsverbrechen vorgeworfen.
Im Vorfeld wurde über die kurdische Newroz-Kundgebung in Hannover heftig gestritten. Die Behörden fürchteten Ausschreitungen. Die Demonstration am Sonnabend wäre beinahe zum Desaster geworden. Viel ist in der letzten Zeit über die Verbote von kurdischen Demonstrationen geschrieben worden. Auch die Demonstration zum Newroz-Fest in Hannover stand auf der Kippe. Das »nd« begleite am Samstag den Anmelder einer der Demonstrationen in Hannover und hat dabei beobachtet, wie die Kommunikation mit der Polizei ablief.
9:40 Auf dem Schützenplatz treffen Bakir Selcuk und die Polizei zum ersten Mal aufeinander. Ein kurzes, höfliches Gespräch folgt. Die Demo vom Schützenplatz muss später starten als die zweite Demo vom Küchengarten. Auf dem riesigen Schützenplatz pfeift kalter Wind. In der Nacht hat es geschneit. Die etwa 300 Demonstranten, die schon da sind, stört dies nicht. Sie rufen Parolen für Afrin, tanzen und trommeln sich warm.
10:15 Einer der Kontaktbeamten sucht den Anmelder. Gleichzeitig kommt ein Lieferwagen, aus dem Fahnen der syrischen Kurdenorganisationen YPG und YPJ verteilt werden.
10:32 Die Polizei gibt dem Anmelder fünf Minuten, um zwei Fahnen mit dem Portrait von Abdullah Öcalan zu entfernen. O-Ton: »Wir wollen keinen Ärger wegen zwei Fahnen, geben Sie die uns oder packen die ins Auto.«
10:45 Weiteres Gespräch mit dem Anmelder der Demonstration. Es wird besprochen, wo er bei der Demo anzutreffen ist. Die Polizei erinnert daran, die Auflagen vorzulesen. Sie beinhalten, dass jeglicher Bezug zu Abdullah Öcalan und der PKK verboten ist. Auch in Form von Parolen. Telefonnummern von Anmelder und Polizei werden ausgetauscht.
11:00 Bakir Selcuk hört am anderen Ende der Kundgebung Durchsagen der Polizei. Eilt dorthin. Es stellt sich heraus, dass kein Grund zur Aufregung besteht. Zwei Demoteilnehmer haben ihre Geldbörsen verloren. Die Polizei bittet zu suchen. Später werden die Portemonnaies gefunden.
11:05 Wieder Gespräche zwischen Anmelder und Polizei. Die Demo könnte starten, zuerst sollten aber die Auflagen verlesen werden.
11:12 Die Auflagen der Demo werden verlesen. Die Polizei ist entspannt.
11:24 Der Anmelder beschwert sich über eine Festnahme. Die Polizei wiegelt ab, es gebe nur eine Identitätsfeststellung, weil ein Teilnehmer eine verbotene Fahne getragen ha- be. Die Polizei kommt auf den Anmelder zu. Öcalan-Rufe sollten unterlassen werden. Dafür fordert die Polizei eine Durchsage von der Demo. Wenn dies unterbleibe, werde die Demo den Platz nicht verlassen.
11:40 Die Demo will starten. Der Kontaktbeamte sagt, dies sei nicht möglich, so lange Öcalan-Parolen gerufen würden. Am Rande der Demo setzen Polizisten Helme auf.
11:44 Jetzt sagt die Polizei, es kann losgehen. An der Situation hat sich nichts geändert.
11:52 Die Demonstration zieht nach Durchsagen, dass man Parolen mit Bezug auf Abdullah Öcalan, »auch wenn es schmerzt«, sein lassen solle, los.
12:02 Die Polizei droht dem Anmelder, wenn die Parolen weiter skandiert würden, würden alle Fahnen verboten. Gesetzlich gebe es wegen des Bezuges zur PKK dann keine anderen Möglichkeiten.
12:05 Nach Durchsagen, keine Öcalan-Parolen mehr zu rufen, geht es weiter. 12:12 Der Anmelder hätte gerne mehr Abstand der Polizeiketten zur Demonstration. Die Polizei kontert, es gebe wieder Öcalan-Rufe. Man müsse eventuell stoppen.
12:38 Nach einer langen, ruhigen Phase kündigt die Polizei an, die Demonstration zu stoppen. Verbotene Parolen würden, von einer Gruppe von zehn Personen, noch immer gerufen.
12:44 Der Anmelder und sein Anwalt haben für weitere Durchsagen gesorgt. Die Polizei fordert trotzdem zum »Nachbessern« auf.
12:48 Die Demoteilnehmer bekommen fünf Minuten Zeit, um die YPGFahnen einzurollen. Lange Diskussionen folgen. Die Polizei bleibt hart. Die Fahnen müssen weg. Anwalt Lukas Theune: »Es kann nicht sein, dass eine Demo mit Tausenden Leuten dafür haften muss, dass zehn Leute verbotene Parolen brüllen.« Die Polizei antwortet: »Wir können uns von Ihnen nicht auf der Nase rumtanzen lassen.« Der PKK-Bezug sei da.
Nach kurzer Zeit lenkt der Einsatzleiter ein. Es kann weitergehen. Aber wenn es noch einen PKK-Bezug geben sollte, würde die Polizei in die Versammlung gehen. Das Gespräch hat beinahe pädagogischen Charakter. Die Polizei als Lehrer, Anwalt und Anmelder als Schüler.
13:05 Polizeibeamte zum Anmelder: »Die Versammlung ist so groß, Sie haben nicht unter Kontrolle, welche Parolen gerufen werden.« Ob es weitergeht, wird geklärt.
13:19 Es soll weitergehen. Mittlerweile stehen drei Wasserwerfer um die Demo. In einem Nebensatz sagt ein Beamter: »Wir müssen noch mal tätig werden.« Kurze Zeit später stürmen Polizisten in die Demo. Sie wollen eine verbotene Fahne sicherstellen. Dabei findet auch eine Festnahme statt. Demonstranten werfen Flaschen und Fahnenstangen auf die Polizei. Begleiter des Anmelders reagieren mit großem Unverständnis auf die Maßnahme. Die Polizei bleibt kühl, sagt, dass es gleich weitergehen könne.
13:30 Die Demonstration kann weiterziehen. Auch Rufe für PKK und Öcalan stören die Polizei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Gegen 13:50 Uhr erreicht die Demonstration den Opernplatz. Hier sollen die Abschlusskundgebung und das NewrozFest stattfinden.
Am Opernplatz bleibt es dann, trotz PKK- und Öcalan-Fähnchen, relativ ruhig. Das Zauberwort der Verhältnismäßigkeit wird von der Polizei ins Spiel gebracht. Auch Dirk Wittenberg, Anmelder der Kundgebung und Mitglied der »Interventionstischen Linken«, trägt zur Deeskalation bei. Er fragt, ob der »Genosse Öcalan« es wohl klug fände, die Auflösung einer Demo wegen Fahnen zu riskieren. Daran halten sich die meisten.
Dass es am Sonnabend in Hannover nicht zur Eskalation zwischen Demonstranten und Ordnungshütern gekommen ist, hatte viel mit der sichtlich um Zurückhaltung bemühten Polizei zu tun. In manch anderem Bundesland wäre bei ähnlichen Vorfällen nach wenigen Metern Schluss gewesen. Aber auch die kurdischen Demonstranten haben sich bemüht, die neuen und aus ihrer Sicht unverständlichen Verbote zu akzeptieren.
Der Krieg der Türkei gegen kurdische Milizen erhitzt auch in Deutschland die Gemüter. Viel Konfliktpotenzial also für die kurdische Großdemonstration, die am Sonnabend in Hannover stattfand. Zuvor tagte in Paris ein Tribunal zur Aufarbeitung türkischer Kriegsverbrechen. Dass es in Hannover nicht zur Eskalation gekommen ist, hatte viel mit der sichtlich um Zurückhaltung bemühten Polizei zu tun. Aber auch die kurdischen Demonstranten haben sich bemüht, die neuen und aus ihrer Sicht unverständlichen Verbote zu akzeptieren.