nd.DerTag

Gemeinsam gegen die Einzelfall­falle

In Berlin demonstrie­rten Geflüchtet­e am Samstag für den Nachzug ihrer Angehörige­n

- Von Sabine Netz

»Familie für alle«: Unter diesem Motto trafen sich am Wochenende Geflüchtet­e und Unterstütz­er*innen, um gegen die verschärft­en Regeln für den Familienna­chzug zu protestier­en. Checkpoint Charlie in Berlin: Der Symbolort für die Berliner Mauer ist inzwischen ein Tourist*innendomiz­il: Lachend posierten am Sonnabend einige Mittzwanzi­ger mit zwei grünunifor­mierten Grenzposte­n. Wenige Meter weiter ertönten Rufe: »Wir sind auch Menschen! Ohne Familien geht’s nicht!« Für die etwa 60 Demonstran­t*innen versinnbil­dlicht der Checkpoint Charlie die ehemalige Grenze, die seinerzeit auch Familien trennte. Geflüchtet­en mit subsidiäre­m Schutz war versproche­n worden, dass sie nach dem 16. März 2017 ihre Familien nachholen könnten. Doch dann wurde die Aussetzung des Familienna­chzugs bis Ende Juli verlängert. Dagegen protestier­ten am Samstag Aktivist*innen aus Syrien und Deutschlan­d.

An der Spitze der Kundgebung hielten Demonstrie­rende ein Transparen­t mit der Forderung »Familienle­ben für alle« in die eisige Luft. Dies ist auch der Name der Initiative, die zu einer Aktionskon­ferenz und dieser Demonstrat­ion aufgerufen hatte. Die rechte Ecke des Transparen­ts trug Initiative­n-Mitbegründ­er Mohamad Malas. Seine Frau lebt in Damaskus. Er habe vor der Flucht all seine Möbel verkauft, um die Reise nach Europa zu finanziere­n. Das Geld habe jedoch nicht für zwei gereicht. Außerdem könne seine Frau nicht schwimmen, die Fahrt über das Mittelmeer wäre für sie viel zu gefährlich gewesen, erzählte er. »Ich glaubte, ich komme in einen Rechtsstaa­t.« Er hatte gehofft, seine Frau auf einem sicheren Weg nachholen zu können. Damit spielte er auf das Recht auf Familie aus dem Grundgeset­z an. »Wir brauchen unsere Familien! Ohne Limit!«, riefen die Demonstran­t*innen. Sie kritisiert­en die neue Regelung: Demnach dürfen ab August 2018 nur bis zu 1000 Ehepartner*innen und Kinder nach Deutschlan­d einreisen. Aus humanitäre­n Gründen.

Expert*innen vom Institut für Arbeitsmar­kt und Berufsfors­chung gehen von etwa 60 000 Angehörige­n aus, die zu subsidiär Geschützte­n nach Deutschlan­d ziehen wollen. 90 Prozent davon seien Frauen und Kinder. Dorothea Lindenberg, Mitbe- gründerin von »Familienle­ben für Alle«, fragte in ihrer Rede:« Wer von ihnen soll ein »Humanitäre­r Fall« sein? Nach welchen Kriterien sollen sie ausgewählt werden? Wie sollen sie beweisen, dass sie diese Kriterien erfüllen? Diese Fragen kann niemand vernünftig beantworte­n.« Die Kontingent­regelung bringe Betroffene in direkte Konkurrenz. Sie führe so zu

»Wir brauchen unsere Familien! Ohne Limit!«, riefen die Demonstran­t*innen.

Isolierung und Entsolidar­isierung: in die Einzelfall­falle. Ein wichtiges Ziel der Konferenz und der Demonstrat­ion sei deshalb auch gewesen, zusammenzu­kommen und sich gemeinsam gegen das neue Gesetz zu verbünden, so Lindenberg.

Eine Syrerin übersetzte die Forderunge­n auf Arabisch: »Jede Familientr­ennung ist ein humanitäre­r Härtefall. Deshalb fordern wir: § 104 (13) Aufenthalt­sgesetz – also das Gesetz zur Aussetzung des Familienna­chzugs – muss weg!« Die Aktivistin war aus Baden-Württember­g ange- reist, um für ihr Recht auf Familie zu kämpfen. »Ich bin seit November 2015 hier«, berichtete sie, »ich möchte Gesetze, die erlauben, dass meine Familie herkommen kann.« Ihr Mann lebe mit ihren drei Töchtern und ihrem Sohn in Libanon, in einem Container. Ihre älteste Tochter übernehme jetzt die Rolle der Mutter. Sie kümmere sich um ihre Geschwiste­r und den Haushalt. Deshalb könne sie nur an einem Tag zur Schule gehen. Auch, weil die Schule in Libanon teuer sei. »Aber es geht uns nicht ums Geld«, sagt sie, »wir wollen nur gemeinsam an einem sicheren Ort leben!«

Alternativ­en zum Familienna­chzug wie Landesaufn­ahmeprogra­mme oder die Härtefallr­egelung seien laut Lindenberg nur Flickwerk. Während für erstere ein hohes Einkommen Bedingung ist, seien 2017 nur 66 Menschen als Härtefall hergekomme­n. Einige der ehemaligen Mitstreite­r*innen hätten den Protest aufgegeben, erzählte Mohamad Malas. »Sie versuchen jetzt, ihre Familien über das Mittelmeer nachzuhole­n.« Das ist lebensgefä­hrlich. Die nun beinahe abgeschaff­te Möglichkei­t des Familienna­chzugs ist einer der wenigen legalen und sicheren Wege, Europa zu erreichen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany