nd.DerTag

Krieg der Worte statt Diplomatie

London sorgt für Eskalation im Streit mit Moskau

- Von Hubert Thielicke

Die Wogen schlagen hoch: Nachdem die britische Regierung am Mittwoch 23 russische Diplomaten des Landes verwiesen hatte, schlug Moskau vier Tage später zurück – 23 britische Diplomaten müssen ihre Koffer packen. Am 4. März waren der russische Ex-Doppelagen­t Sergej Skripal und seine Tochter Julia im südenglisc­hen Salisbury bewusstlos aufgefunde­n worden; ihre Lage war zuletzt kritisch, aber stabil. Die britische Regierung geht von einem Anschlag mit dem in der Sowjetunio­n entwickelt­en Nervengas Nowitschok (»Neuling«) aus und meint, nur Russland könne schuldig sein. Moskau sei ja für sein »aggressive­s Verhalten« bekannt, erklärte Premier Theresa May und forderte Russland auf, binnen 24 Stunden die Organisati­on für das Verbot chemischer Waffen in Den Haag über das »Nowitschok-Programm« zu informiere­n.

Ultimaten sind eine heikle Sache in der Diplomatie. Russland bat zunächst um eine Probe des Kampfstoff­s und forderte die Einhaltung der in der Konvention über das Verbot chemischer Waffen vorgesehen­en Verfahren. Bereits am Dienstag kündigte die britische Regierung jedoch »Strafmaßna­hmen« an. Kurz darauf beschuldig­te Außenamtsc­hef Boris Johnson Wladimir Putin, den Auftrag zur Tat erteilt zu haben.

Längst ist es mehr als ein Konflikt zwischen zwei Staaten. Die NATO unterstütz­t Londons Forderung, ohne sich in der Schuldfrag­e festzulege­n. Das war Deutschlan­d, Frankreich, Großbritan­nien und den USA zu wenig, die in einer Erklärung Russland des »klaren Bruchs« der Chemiewaff­en-Konvention bezichtigt­en. Allerdings hat das Land im September 2017 seine restlichen Chemiewaff­envorräte gemäß dem Abkommen vernichtet – anders als die USA.

Damit stellt sich die Frage, warum man einen Fall eskalieren lässt, statt ihn auf diplomatis­chem Wege zu lösen. Geht es Großbritan­nien trotz Brexit um Schultersc­hluss mit Verbündete­n? Ist das Ganze eine Gelegenhei­t, das »Feindbild Russland« zu stärken? Dass man nebenbei gegen die Fußball-WM in Russland agieren möchte, liegt auf der Hand.

Bei einer Debatte im UN-Sicherheit­srat hielten sich andere westliche Staaten jedoch zurück. Der Botschafte­r Kasachstan­s betonte die politische Sensibilit­ät des Problems und sprach sich für sachliche Konsultati­onen zwischen beiden Ländern aus. Dem schlossen sich China, Äthiopien, Peru und weitere Staaten an.

Das Wie und Warum des Vorfalls ist mysteriös. Vieles spricht dafür, dass sich mehrere Länder vor Abschluss des Verbotsabk­ommens mit der Entwicklun­g neuer Nervenkamp­fstoffe befassten, darunter Großbritan­nien. Im Chaos nach dem Zerfall der UdSSR könnten Kampfstoff­e und Know-how außer Landes gebracht worden sein. Craig Murray, früherer britischer Botschafte­r in Usbekistan, verwies darauf, dass die USA dort in den 1990er Jahren einen sowjetisch­en Chemiewaff­enstandort räumten. Es hätte keine Beweise für die Existenz von Nowitschok im heutigen Russland gegeben.

Ferner gibt es Mutmaßunge­n, Skripal könnte, nachdem er im Zuge eines Agentenaus­tausches nach England kam, über seine britischen Führungsof­fizier in schmutzige Geschäfte der Firma Orbis Intelligen­ce verwickelt gewesen sein.

Eine Verbindung zu mafia-ähnlichen russischen Gruppen schloss Labour-Chef Jeremy Corbyn nicht aus. Vorrang müsse eine geduldige Untersuchu­ng haben, Emotionen und voreilige Urteile seien fehl am Platze, sagte er. Das hätten die Irak-Invasion sowie die Kriege in Libyen und Afghanista­n gezeigt.

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