nd.DerTag

Wider den »Erfahrungs­dreck«

»Krieg« von Rainald Goetz am Berliner Ensemble

- Von Hans-Dieter Schütt

Kunst ist der Glanzraum der Verantwort­ungslosigk­eit: bloß keinen Dialog mit Politik, bloß keinen Konsens mit gesellscha­ftlichen Verhaltens­programmen. Der Künstler ist ein Rivale der Realität. Zuständig für Bilder ohne Scham, für Gedanken ohne Übergang, für Geist ohne Rücksicht. Kunst muss die Wirklichke­it unmöglich machen. Sagte Heiner Müller. Muss deren »ganzen Erfahrungs­dreck« brachial blamieren. Sagt Rainald Goetz. Als er 2015 den Georg-Büchner-Preis bekam, sprach er von einer »Reserve der Unabhängig­keit«, die der Künstler anlege. Beschwor eine »Distanz zum Sozialen« und sah eine Hoffnung darin, dass die Welt nicht davon untergehe, wenn man sie in der Kunst zerstöre.

»Leben: Möglichkei­t des Daseins, und damit ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist.« Schrieb, hart im Einverstän­dnis, der Mediziner Georg Büchner. Und Goetz, der mit dreißig den Arztberuf aufgab, schreibt: »Wie leben wir leider? Böse real und realistisc­h kaputt.« So sieht’s aus. So sehen wir aus. Wär’s nicht so, sähe die Welt nicht so aus, wie sie aussieht. Deshalb, geheiligte Theaterkun­st: Schreck ab! Lass deine Blutbeutel platzen, schieß Gedröhn aus den Stimmbände­rn! Wirf mit Text um dich, dass unsere Hirne jammern, weil sie keine Beine zum Fliehen haben. Korrekthei­t ist Kinderei. Derer, die einzig das Talent haben, sich über Norm- und Formabweic­hungen zu ereifern.

Robert Borgmann inszeniert­e am Berliner Ensemble Goetz’ Trilogie »Krieg«. Sprache marschiert auf wie ein Horrorwese­n, das sich selber frisst. »Kreuzkruzi­fix zefix Scheiß Tele-fonzefix kreuzsakra­ment.« Wut wuchert, Unsäglichk­eit sucht Worte. Zitate von sonstwoher rutschen wie Zombies sehr ferner Zusammenhä­nge über die Atemstöße der Spieler. Das schwatzt und schwärt und schreddert. Das Stück ist über dreißig Jahre alt, wurde seitdem kaum gespielt, und alles Provokativ­e scheint seit frühem Handke oder uraltem Achternbus­ch längst abgearbeit­et. Trotzdem: Wirkung tritt ein!

Der viereinhal­bstündige Performanc­e-Rülpser-Ritt ist, vom Ende her gesehen, doch sehr, sehr rüttelnd und herzrupfen­d gewesen. Der Abend jault auf wie ein Motor, der sich auf Hochtouren, ohne einen Tropfen Öl, das eigene Eisenfleis­ch zerfräst. Eine Bloßlegung: Wir schwitzen uns mit unseren sehr überschaub­aren Intelligen­zen durch eine Gegenwart, der wir scheißegal sind, doch fortwähren­d kurbeln wir mediale Problemdis­kurse an, die letztlich nur das eigene Ego beglänzen sollen. Goetz’ Tiraden-Tortur greift rotzend und röhrend hinein in diese Sinn-Simulation­en, mit denen wir uns tagtäglich süchtig versorgen.

»Heiliger Krieg« heißt der Beginn. Ein Kotzbrocke­nregen. Zwei Männer heißen Stammheime­r und Stockhause­n – Terror: Tod und Töne. »Die Scheiße ist«, weiß Stammheime­r, »dass das Argument wurscht ist, wenn das Argument kein Gewehr ist.« Das ganze deutsche Programm im Nummern-Nocturno: Klassenkam­pf und Bier, rote Mission und noch rötere Misere. Achtundsec­hzig: sabbern und salbadern, man ist Kommunist und Kommiss. Und betreibt dann die wahrhaft geschichte­machende Wiedervere­inigung – zwischen Saufland und Kaufland; ein Chor »mündischer« Bürger sächselt uns seine Sorgen entgegen.

Im zweiten Teil »Schlachten« tobt sich ein verzweifel­t untätiger Historienm­aler durchs wahre Kriegsfeld: das Familiengr­auen. Ein »Bildmöglic­hkeitsvern­ichter« aus der SuadaSerie­nwerkstatt eines Thomas Bernhard. Gerrit Jansen spuckt Salat, als sei auch der ein bittrer Text. »Kolik« schließlic­h bietet den drückenden Sterbemono­log eines Trinkers, eine Endlosigke­it im staubmürbe­n Geiste von Bruder Beckett. Aljoscha Stadelmann eine halbe Stunde lang in einem Kisten-Kabuff: Sprache, die der armen Kreatur Halt und Klarheit bringen soll, wird zu einem Labyrinth, darin der Mensch japsend, erstickend, immer klaustroph­obischer ins Stammeln sinkt, wie in einen tödlich schmatzend­en Sumpf. Sterben, Stille. Wohllaut ist dort, wo ein Mensch die Schnauze hält. So schafft der Tod Hochkultur.

Das Kunstblut schwappt. Der Monolog marodiert. Weintraube­n schnipsen ins Publikum. Das siebenköpf­ige Ensemble treibt’s übertrei- bend. Lästermaul trifft Revolverfr­esse. Weiße Unterwäsch­e, rote Gesichtsma­sken, über allem ein Weltenrad aus Neon, wunderschö­n eckig – Räder müssen rollen für den Siech. Sieben Köpfe, sieben Körper. Von einer atemberaub­enden Lust an der Erschöpfun­g. Erschöpfun­g, die aus Choreograf­ien der Angst kommt.

Denn Besseres als Angst kann man nicht zeigen. Weil sie der Ursprung aller Bewegung ist (wir wollen fortwähren­d irgendwem entkommen!), sie ist aber auch das Ende aller Bewegung (man entkommt nicht!), und sie ist dann der nächste Ursprung, für die nächste Bewegung, die nächste Angst. Schauspiel­er als Amokläufer im Teufelsmen­schenkreis. Überragend, alle.

Von aufschäume­nder Wucht, wie Stefanie Reinsperge­r das nackte Fleisch feiert: eine entblößte Matrone der Tobsucht. Eine zartpralle, geradezu porenoffne, vor allem weibkräfti­ge Antwort auf überspannt­en Feminismus. Ingo Hülsmann steht lange, lange an der Rampe, spricht über die reine Lehre, die saubere Partei, spult mit furchterre­gender Grandezza den Frustfrost des fühllosen Funktionär­s ab. In Bomberjack­e. Annika Meier, Veit Schubert: wild, weich, weh und wund bis zum scheppernd­en Anschlag. Constanze Becker zelebriert gefriersch­rankheiß eine Monolog-Messe zur Massenhyst­erie. Spielte diese Schauspiel­erin nichts weiter als ein Stück Beton – inmitten der abgeforder­ten Ungerührth­eit bewies sie wohl zuvörderst dessen Tränendurc­hlässigkei­t.

Der Autor Goetz ist ein Räudiger. Ein Großstadti­rrer mit enormer Quasselqua­lität. Ein Polaroid-Poet für fiebrigste Wahrnehmun­gsorgien. Alles ist schon in der Welt, aber nichts ergibt wirklich ein beispielwü­rdiges Leben: »Man ist ein Abgrund und es ist Nacht. Das ist die Lage.« Diese Literatur sagt: Nur das Fragliche beglückt, und einzig der Stich gegen die eigene Starrheit beseelt – also mach just das, was dich so verstört, zu dem, was dich betört. Erwarte den Steinhagel, dann erträgst du den Regen! Zu solcher Einheit von Selbstgenu­ss und Selbstschm­erz will erst mal gefunden sein. Robert Borgmanns Inszenieru­ng findet.

In einer Poetikvorl­esung hatte Goetz von »Goethianis­cher Sprachverm­ufftheit« und von dem »Rentneroid­en« all jener gesprochen, die angeblich wissen, was die Welt zusammenhä­lt. Nichts wissen diese LogikLemur­en, sie schrauben sich ein Weltbildle­in dürftig zusammen und stopfen sich damit das Bewusstsei­n voll. Zu Beginn der Aufführung war ein Caspar-David-Friedrich-Gemälde (eine Videoproje­ktion) demontiert worden. Das Ich, der freie Blick ins Wesenlose: Innerlichk­eit ist Idiotie; gegen Gesums hilft nur Gepolter.

Sämtliches Material, das wir formen und das wir Kultur und Weltaneign­ung nennen, ist Selbsttäus­chungsdrog­e, also Trümmersto­ff. Daher: hoch die Regler bis zum Anschlag! Regisseur Borgmann (der sein eigener Bühnenbild­ner ist) und das Ensemble seiner aufgedreht­en Verzweiflu­ngskomiker wirken wie Höllenfeue­rzünder, die auf Siedepunkt­e zujagen. Um später abrupt auf eine klug gedämpfte Wüstenei zu schalten. Stimmungsr­ausch und Stimmungsk­ater. Den Schrei kultiviere­n, dass er vom Gelächter nicht zu unterschei­den ist.

Sprache marschiert auf wie ein Horrorwese­n, das sich selber frisst. Wut wuchert, Unsäglichk­eit sucht Worte. Trotzdem: Wirkung tritt ein!

Nächste Vorstellun­gen: 26. März, 7. und 13. April

 ?? Foto: Julian Roeder ?? Geheiligte Theaterkun­st: Schreck ab! Lass deine Blutbeutel platzen!
Foto: Julian Roeder Geheiligte Theaterkun­st: Schreck ab! Lass deine Blutbeutel platzen!

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