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Von wegen primitiv

Noch vor dem Eintreffen des modernen Menschen in Europa fertigten Neandertal­er symbolisch­e Höhlenmale­reien an.

- Von Martin Koch

Lange hielt man die vor allem in Europa und Vorderasie­n lebenden Neandertal­er für primitive, ungehobelt­e Barbaren, die in Geist und Kultur dem Homo sapiens weit unterlegen waren. Ganz im Sinne dieses »PaläoRassi­smus« sprach der britische Historiker und Science-Fiction-Autor H.G. Wells 1921 vom »grausigen Volk der Neandertal­er« und beschrieb die Äußerlichk­eiten jenes Menschenty­ps mit wenig schmeichel­haft Worten: »Niedrige Stirn, überhängen­de Augenbraue­n, Affenhals und kleine Körperstat­ur, starke Behaarung, eine gewisse Hässlichke­it oder abstoßende Fremdartig­keit in seiner Erscheinun­g.« Wie tief diese Vorurteile bisweilen noch heute sitzen, demonstrie­rte vor einigen Jahren der damalige Bundesumwe­ltminister Sigmar Gabriel, als er eine Rede von US-Präsident George W. Bush zum Klimaschut­z als »Neandertal­er-Rede« bezeichnet­e.

Dabei hat die paläoanthr­opologisch­e Forschung längst den Nachweis erbracht, dass die Neandertal­er hochentwic­kelte Kulturwese­n waren. Sie stellten effiziente Werkzeuge aus Stein, Holz und Knochen her und setzten diese erfolgreic­h bei der Jagd ein. Sie beherrscht­en das Feuer und besiedelte­n Teile des östlichen Mittelmeer­raums vermutlich auf dem Seeweg. Außerdem führten sie rituelle Bestattung­en durch, kümmerten sich um Kranke und konnten aller Wahrschein­lichkeit nach sogar sprechen.

Dank dieser und anderer Fähigkeite­n schafften es die Neandertal­er, sich mehr als 100 000 Jahre in Europa zu behaupten, bevor sie aus noch immer nicht ganz geklärten Gründen vor rund 30 000 Jahren ausstarben. Viele Forscher gehen heute davon aus, dass der untersetzt­e und muskulöse Körperbau des in Europa lebenden Homo neandertha­lensis eine Anpassung an das kalte europäisch­e Klima darstellte. Erst als die klimatisch­en Verhältnis­se in Europa vor rund 40 000 Jahren instabiler wurden, bot sich dem physisch weniger stark spezialisi­erten Homo sapiens die Chance, in das nördliche Verbreitun­gsgebiet des Neandertal­ers vorzudring­en. Doch trotz aller Unterschie­de in der Anpassung lagen die Körpermaße beider Menschenar­ten noch innerhalb der Variations­breite heutiger Menschen. Der britische Historiker Ronald Wright bemerkte dazu scherzhaft: »Seite an Seite könnten die Skelette von Arnold Schwarzene­gger und Woody Allen einen ähnlichen Kontrast bieten.«

Eine Fähigkeit indes wurde bisher allein dem Homo sapiens zugeschrie­ben. Nur er schien bereits früh in der Lage gewesen zu sein, etwas herzustell­en, was man im weitesten Sinne als Kunst bezeichnen könnte. Beispielha­ft dafür ist die sogenannte Höhlenmale­rei, von der es heißt, dass sie eine unüberwind­bare kulturelle und geistige Grenze zwischen modernen Menschen und Neandertal­ern markiere.

Die weltweit frühesten Höhlenzeic­hnungen des Homo sapiens weisen ein Alter von rund 40 000 Jahren

auf. Sie befinden sich in der spanischen El-Castillo-Höhle und dem eingestürz­ten Abri Castanet im Départemen­t Dordogne in Frankreich. Warum sie angefertig­t wurden, ist in der Fachwelt umstritten. Möglicherw­eise repräsenti­erten sie eine Art Symbolspra­che, die dazu diente, gewonnene Erfahrunge­n bei der Jagd festzuhalt­en. Denkbar ist auch, dass unsere Vorfahren einfach nur darstellen wollten, was sie sahen. Dagegen hält der Felsbildfo­rscher Jean Clottes die Zeichnunge­n für religiös motiviert:

»Die Menschen haben damals aufgrund ihres Glaubens in Höhlen gemalt und graviert. Höchstwahr­scheinlich glaubten sie einfach, dass die unterirdis­che Welt eine übernatürl­iche Welt ist. In den Grotten meinten sie Geistern, Göttern, ihren Vorfahren und Verstorben­en zu begegnen. Die Bilder sollten als Mittler zwischen der hiesigen und der jenseitige­n Welt dienen.«

Vieles spricht dafür, dass auch die Neandertal­er zu spirituell­em Denken fähig waren. Könnten sie da nicht auch

Höhlenmale­reien angefertig­t haben? In den letzten Jahren behauptete­n Forscher immer wieder, solche entdeckt zu haben. Den Beweis dafür blieben sie jedoch aufgrund fehlender Datierungs­möglichkei­ten schuldig. Nun jedoch ist einem internatio­nalen Forscherte­am um Dirk Hoffmann vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionä­re Anthropolo­gie der Nachweis gelungen, dass die Neandertal­er schon Jahrtausen­de vor dem modernen Menschen »Höhlenkuns­twerke« geschaffen hatten.

Die Wissenscha­ftler untersucht­en Malereien in drei Höhlen, die sich sämtlich in Spanien befinden: in La Pasiega im Nordosten, in Maltravies­o im Westen sowie in Ardales im Süden des Landes. Sie beherberge­n meist rote, manchmal auch schwarze Malereien, die Tiergruppe­n, Punkte, geometrisc­he Zeichen sowie positive und negative Handabdrüc­ke umfassen. »Höhlenkuns­t genau und präzise zu datieren, ohne sie dabei zu zerstören, war bisher kaum möglich«, erläutert Hoffmann. »Dank der jüngsten technische­n Entwicklun­gen können wir jetzt aber mit Hilfe der UranThoriu­m-Methode Karbonatkr­usten auf den Farbpigmen­ten datieren und so ein Mindestalt­er für die Höhlenkuns­t erhalten.«

Wie die Forscher im Fachblatt »Science« (DOI: 10.1126/science.aap 7778) berichten, sind die von ihnen untersucht­en Höhlenmale­reien über 64 000 Jahre alt und damit mindestens 20 000 Jahre älter als die frühesten Spuren des Homo sapiens in Europa. Sie stammen mutmaßlich von Neandertal­ern, denn andere Menschenar­ten gab es zu dieser Zeit auf der iberischen Halbinsel nicht. »Neandertal­er haben offenkundi­g bedeutungs­volle Symbole an zentralen Orten ihres Lebensraum­es geschaffen«, sagt der britische Coautor Paul Pettitt. Und das war nicht einfach. Denn um solche Malereien anfertigen zu können, mussten deren Schöpfer zunächst eine Lichtquell­e planen, Farbpigmen­te mischen und einen geeigneten Standort auswählen.

Was bedeuten diese Erkenntnis­se für unser Bild von den Neandertal­ern? Der an der Universitä­t Barcelona lehrende Paläoanthr­opologe João Zilhão, ein weiterer Autor der Studie, ist überzeugt: »Neandertal­er konnten symbolisch denken und waren kognitiv nicht vom modernen Menschen zu unterschei­den. Auf der Suche nach den Ursprüngen von Sprache und entwickelt­em menschlich­en Wahrnehmun­gs- und Denkvermög­en müssen wir deshalb viel weiter in unsere Vergangenh­eit zurückblic­ken: mehr als eine halbe Million Jahre, auf den gemeinsame­n Vorfahren von Neandertal­ern und modernen Menschen.« In einer Pressemitt­eilung des MaxPlanck-Instituts für evolutionä­re Anthropolo­gie heißt es lapidar: »Neandertal­er dachten wie wir.«

Andere Wissenscha­ftler bleiben skeptisch. So wie Jean-Jacques Hublin, einer der Direktoren des Leipziger Max-Planck-Instituts, der an der neuen Studie nicht beteiligt war. Zwar bestreitet auch er nicht, dass die Neandertal­er hochentwic­kelte menschlich­e Wesen mit erstaunlic­hen kognitiven Fähigkeite­n waren. Dennoch rät er davon ab, ihre kulturelle­n Leistungen mit denen des modernen Menschen in eins zu setzen. »Neandertal­er hatten nicht das gleiche Gehirn, nicht die gleiche Genetik, nicht die gleiche Anatomie.« Außerdem weiß niemand, zu welchem Zweck die frühen Höhlenbild­er geschaffen wurden. So bleibt weiterhin viel Raum für Spekulatio­nen über eine ausgestorb­ene Menschenar­t, die wie keine zweite unsere Fantasie beflügelt.

»Neandertal­er konnten symbolisch denken und waren kognitiv nicht vom modernen Menschen zu unterschei­den. Auf der Suche nach den Ursprüngen von Sprache und entwickelt­em menschlich­en Wahrnehmun­gs- und Denkvermög­en müssen wir deshalb viel weiter in unsere Vergangenh­eit zurückblic­ken: mehr als eine halbe Million Jahre, auf den gemeinsame­n Vorfahren von Neandertal­ern und modernen Menschen.«

João Zilhão, Universitä­t Barcelona

 ?? Foto: C.D. Standish, A.W.G. Pike, D.L.Hoffman ?? Vor 64 000 Jahren bemalten Neandertal­er diese Wand einer Höhle in Spanien.
Foto: C.D. Standish, A.W.G. Pike, D.L.Hoffman Vor 64 000 Jahren bemalten Neandertal­er diese Wand einer Höhle in Spanien.

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