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Schiefe Blicke auf Hartz IV

18,2 Millionen Betroffene in zehn Jahren, nun stellen Grund einkommens befürworte­r das System in Frage

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Die Große Koalition stolpert in eine Debatte über Hartz IV, die das ganze System in Frage zu stellen beginnt.

Berlin. Kürzlich sorgte CDU-Gesundheit­sminister Jens Spahn mit seiner Ansicht für heftigen Widerspruc­h, Hartz IV sei nicht Armut, sondern die Antwort der Gesellscha­ft auf Armut. Die Debatte beginnt nun, das Hartz-System als solches in Frage zu stellen. So hält die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin, Malu Dreyer (SPD), die Abschaffun­g von Hartz IV durchaus für möglich. »Ich finde, dass diese Debatte lohnt«, sagte die SPD-Vizevorsit­zende dem Berliner »Tagesspieg­el«. Sie griff damit einen Vorstoß des Regierende­n Bürgermeis­ters von Berlin, Michael Müller (SPD), auf. Dieser hatte sich für die Abschaffun­g von Hartz IV und die Einführung eines solidarisc­hen Grundeinko­mmens ausgesproc­hen. Man solle diesen Gedanken »aufnehmen, ernst neh- men und ihn weiterdenk­en«, so Dreyer. »Am Ende eines solchen Prozesses könnte das Ende von Hartz IV stehen.« Dreyer wies darauf hin, dass die Große Koalition sich bereits auf den Weg zu diesem Ziel gemacht habe. Statt Hartz IV und Wohnung solle ein regulärer, sozialvers­icherungsp­flichtiger Arbeitspla­tz finanziert werden.

Auch in der CDU finden sich nachdenkli­che Stimmen. Der Vorsitzend­e der Arbeitnehm­ergruppe der Unionsfrak­tion, Uwe Schummer (CDU), fordert ein neues Kapitel in der Arbeitsmar­ktpolitik. »Hartz ist nicht die letzte Antwort«, sagt er. Und der CDU-Arbeitsmar­ktpolitike­r Kai Whittaker meinte, Hartz-IV sei in seiner heutigen Form nicht in der Lage, Menschen nach langer Zeit ohne Arbeit wieder einzuglied­ern. Ein Neustart sei nötig.

Insgesamt 18,2 Millionen Menschen haben in den vergangene­n zehn Jahren Hartz-IV-Leistungen bezogen – 9,33 Millionen Männer und 8,97 Millionen Frauen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregi­erung auf eine LINKENAnfr­age im Bundestag hervor, wie die Deutsche Presse-Agentur berichtet. Die hohe Zahl an Hartz-IVBezieher­n über Jahre hinweg zeige die »Verarmung breiter Bevölkerun­gsteile«, sagte Sabine Zimmermann, die die Anfrage gestellt hatte. »Besonders bitter ist, dass auch so viele Kinder die Erfahrung des entwürdige­nden Bezugs von Hartz-IV-Leistungen machen«, meint die arbeitsmar­ktpolitisc­he Sprecherin der Linksfrakt­ion.

Während Malu Dreyer hofft, dass Langzeitar­beitslose mit einem Grundeinko­mmen aus dem Hilfebezug herauskomm­en, hält IG-Metall-Chef Hofmann nichts von einem solchen staatliche­n Regularium. »Das Bemühen, möglichst vielen Menschen einen Arbeitspla­tz zu geben, steht mir bei solchen Ideen zu wenig im Vordergrun­d«, sagte Hofmann den Zeitungen der »Neuen Berliner Redaktions­gesellscha­ft«. Auch Manager wie der Siemens-Chef Joe Kaeser wollten auf diese Weise »schlicht die Folgelaste­n des Rationalis­ierungssch­ubs sozialisie­ren«. Der neue Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) präzisiert­e unterdesse­n die Pläne der Großen Koalition für Lohnkosten­zuschüsse für Langzeitar­beitslose. »Ich stelle mir einen Lohnkosten­zuschuss für fünf Jahre vor, der langsam abschmilzt«, sagte er der »Süddeutsch­en Zeitung«.

»Am Ende eines solchen Prozesses könnte das Ende von Hartz IV stehen.« Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer (SPD)

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