nd.DerTag

6 Minuten 20 Sekunden Schweigen

In den USA fordern Millionen schärfere Waffengese­tze / Protest von Schülern organisier­t

- Von Max Böhnel, New York

Überlebend­e des Schulmassa­kers von Parkland fordern sowohl die mächtige Waffenlobb­y als auch die Politik heraus. Allein in der Bundeshaup­tstadt Wahsington D.C. demonstrei­ren 800 000 Menschen. »Hey, hey, NRA – how many kids did you kill today?«, hallen Sprechchör­e von Tausenden durch die Hochhaussc­hluchten von Manhattan. Die Frage an die Waffenlobb­y, wie viele Kinder sie heute schon getötet habe, geht einher mit Rufen nach schärferen Waffenkont­rollen (»Gun control now!«) und »Bullshit«. Vor dem Trump-Tower halten Demonstran­ten Schilder mit Aufschrift­en wie »Wenn sich unsere Führer wie Kinder verhalten, müssen Kinder führen« oder »Ich wähle 2020« hoch.

Auch der Ex-Beatle Paul McCartney hat sich unter die Menge gemischt. Einer seiner besten Freunde, John Lennon, war unweit des Demonstrat­ionsorts erschossen worden, begründet er seine Teilnahme. Gut 200 000 Menschen nehmen an der New Yorker Demo teil. Ähnlich hohe Zahlen werden auch aus anderen USGroßstäd­ten gemeldet, von Chicago und Boston über Philadelph­ia, Miami und Minneapoli­s bis nach Houston und Los Angeles. An bis zu 1000 weiteren kleineren Orten im ganzen Land drückten Schülerinn­en und Schüler sowie Überlebend­e von Schusswaff­engewalt ihre Wut auf die Waffenlobb­y National Rifle Associatio­n (NRA) und die Politiker aus, die die Waffenkont­rollgesetz­e seit Jahren immer weiter entschärfe­n. Weltweit gab es zahlreiche weitere Unterstütz­ungskundge­bungen, wie zum Beispiel vor der US-Botschaft in Berlin.

Das eigentlich­e Großereign­is fand in der Bundeshaup­tstadt Washington D.C. statt. Die Initiatore­n des »March for Our Lives«, des Marsches für unsere Leben, schätzten die Teilnehmer­zahl auf 800 000 – eine der größten Protestkun­dgebungen in der Geschichte Washington­s. Für Hunderttau­sende von Jugendlich­en, die demnächst ins wahlberech­tigte Alter kommen, handelt es sich um die ersten Politisier­ungsschrit­te. Zu den Hauptredne­rn gehörten Überlebend­e des Blutbads in der Marjory Stoneman Douglas High School, die vor fünf Wochen in Todesangst auf dem Boden ihrer Klassenzim­mer kauerten, während der Attentäter 17 Menschen niedermetz­elte. Zur Sprache kamen dabei nicht nur Forderunge­n nach schärferer Waffenkont­rollgesetz­gebung, sondern auch die korrupte Wahlkampff­inanzierun­g von Politikern durch Lobbygrupp­en wie der NRA. Einer der Höhepunkte in Washington war eine Rede der neunjährig­en Yolanda King, Enkeltocht­er des ermordeten Bürgerrech­tlers Martin Luther King. »Ich habe einen Traum: dass genug genug ist«, sagte sie in Anspielung auf die historisch­e Rede ihres Großvaters, und: »Dies sollte eine waffenfrei­e Welt sein. Punkt.«

Die Schülerin Emma González von der Stoneman Douglas High School nutzte ihre Redezeit vor den Hunderttau­senden und vor laufenden Ka- meras zum völligen Schweigen, sechs Minuten und 20 Sekunden lang und unter Tränen. So lange hatte es gedauert, bis der Massenmörd­er seine Tat begangen hatte. »Geht wählen« rief sie die Menge unter riesigem Applaus auf.

González gehört zu der Gruppe von Schülern, die unverzügli­ch nach der Tat die Dinge in die eigenen Hände nahmen und zunächst unter dem Hashtag #Neveragain, niemals wieder, auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter zu Protesten aufriefen, darunter auch zu dem ersten großen Schul-»Walkout« vor zwei Wochen. Daran beteiligte­n sich Zehntausen­de von Schülern. Die Gruppe machte sich mit Hilfe von sozialen Medien wie Instagram, Twitter und Snapchat über die bei Politikern nach jedem Massa- ker zur Routine gewordenen Abwiegelun­g »thoughts and prayers« (wir schicken Euch Gedanken und Gebete) lustig und nennt die Verantwort­lichen beim Namen. Als nächstes Großereign­is ist ein zweites Schul»Walkout« am 20. April geplant, dem 19. Jahrestag des Massakers an der Columbine Highschool in Colorado.

Unterdesse­n hieß es in einer Erklärung der Trump-Regierung: »Wir applaudier­en den vielen mutigen jungen Amerikaner­n, die heute ihr Verfassung­srecht nach Artikel 1 (Recht auf freie Meinungsäu­ßerung) ausüben. Unsere Kinder zu schützen ist eine Top-Priorität des Präsidente­n.« Was dahinter steckt, werden Hunderttau­sende von Schülern in den kommenden Tagen im Sozialkund­eunterrich­t diskutiere­n können.

 ?? Foto: AFP/Andrew Caballero-Reynolds ?? 800 000 Menschen demonstrie­rten allein in Washington D.C.
Foto: AFP/Andrew Caballero-Reynolds 800 000 Menschen demonstrie­rten allein in Washington D.C.

Newspapers in German

Newspapers from Germany