nd.DerTag

Eine Theorie ohne Praxis?

Wie man Marx nach dem Ende der Großen Erzählunge­n lesen kann

- Von Dick Boer

Die Zeit, da der Marxismus die Wissenscha­ft einer realen Bewegung war, ist vorbei. Die Macht des Kapitals ist riesig. Aber es gibt Gegenbeweg­ungen, die sich damit nicht abfinden wollen. Es gab eine Zeit, da war die Marxsche Theorie noch eine fröhliche Wissenscha­ft. Ich weiß noch, wie meine erste »Kapital«-Lektüre mir die Augen öffnete. Kapital war nichts anderes als gestohlene Arbeit, die als Macht des Kapitals gegen die Arbeiterkl­asse eingesetzt wurde. Die Vorstellun­g, als seien Kapital und Arbeit nur zusammen denkbar, für immer und ewig auf einander angewiesen, war die Ideologie, womit der Kapitalism­us sich als alternativ­los darstellte. Eine Gesellscha­ft ohne Kapital zu denken war unmöglich, der Arbeiter hatte sich damit abzufinden, dass er dank des Kapitals existieren musste. Er konnte streiken, natürlich – auch wenn er das lange nicht durfte. Er konnte sich auch organisier­en, um dem Kapital Reformen abzuzwinge­n – auch das übrigens war ihm lange verboten. Aber das Kapital blieb das Ende aller historisch­en Weisheit. Jenseits des Kapitals gab es nichts – nur Pöbelherrs­chaft, Chaos.

Marx aber bewies: Das Kapital ist genau genommen überflüssi­g. In der Theorie ist eine Gesellscha­ft, in der das Kapital ausgespiel­t hat, möglich. Und diese Theorie war hoffnungsv­oll. Denn es gab innerhalb der kapitalist­ischen Gesellscha­ft eine revolution­äre Kraft, die diese Gesellscha­ft aus den Angeln heben konnte: das Proletaria­t.

Die Utopie einer vom Kapital befreiten Gesellscha­ft wurde Wissenscha­ft. Marx’ Kritik der politische­n Ökonomie des Kapitalism­us wurde wesentlich­er Bestandtei­l einer Großen Erzählung, der Großen Erzählung des Sozialismu­s. Hoffnungsv­oll war das Wort von Marx und Engels: »Der Kommunismu­s ist für uns nicht (...) ein Ideal, wonach die Wirklichke­it sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismu­s die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.« Denn diese Bewegung gab es und wir nahmen an ihr teil. Fröhliche Wissenscha­ft war auch der großartige Satz im »Kommunisti­schen Manifest«: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellscha­ft ist die Geschichte von Klassenkäm­pfen.«

Nicht immer sollte die Geschichte eine Geschichte von Klassenkäm­pfen sein. Das war immer noch die tödliche Weisheit des Kapitals. Diese verneinte nicht, dass das Verhältnis von Kapital und Arbeit nicht ohne Konflikt abging. Klassenkam­pf gibt es, wenn er auch immer darauf gerichtet ist, friedlich gelöst zu werden. Denn, das ist das Entscheide­nde, dieser Konflikt ist nicht lösbar. Es bleibt dabei: das Kapital der Arbeitgebe­r, die Arbeit der Arbeitnehm­er, eine Welt von Geben und Nehmen. Und, wenn das Kapital keine Arbeit mehr zu vergeben hat, ist der Arbeiter seine Arbeit los. Das ist das Gesetz des Verhältnis­ses von Kapital und Arbeit. Es ist aber nicht das Gesetz der Geschichte überhaupt! Es geht um die Geschichte aller bisherigen Gesellscha­ft. Einmal wird der Klassenkam­pf ein Ende haben.

An diesem Punkt übrigens überschrit­t unsere Hoffnung die Grenze zwischen Wissenscha­ft und Utopie. Aber Utopie und Wissenscha­ft schlossen einander nicht mehr aus. Der »Kältestrom« der Wissenscha­ft und der »Wärmestrom« der Utopie fanden sich im »Prinzip Hoffnung« (Bloch). Die Perspektiv­e einer klassenlos­en Gesellscha­ft (die Utopie) war in der Theorie (die Wissenscha­ft) angelegt. Die Marxsche Theorie war die Kritik eines sich als das Ende der Geschichte gerierende­n Kapitalism­us. So hielt sie die Möglichkei­t eines anderen Endes, jenseits des Kapitalism­us, offen. Mehr vermag die Wissenscha­ft nicht zu bieten, mit weniger darf sie sich nicht zufriedeng­eben. (...)

Die Große Erzählung der Bibel und die Große Erzählung des Sozialismu­s decken sich nicht ganz. Es gibt eine Differenz. Der Marxismus machte den Eindruck einer Fortschrit­tsgläubigk­eit, die wir von unserer Tradition her nicht ohne Weiteres nachvollzi­ehen konnten. Wir glauben zwar: Welt und Mensch sind gut geschaffen. Aber es gab nicht nur Schöpfung, sondern auch Fall. Und im Zentrum unseres Glaubens steht der Exodus: der Auszug des Sklavenvol­kes aus seiner Sklaverei. Aber auf den Exodus folgt der Kult des goldenen Kalbes, die Karikatur der Befreiungs­bewegung. Wir wissen: Revolution­äre können die Revolution auch verraten. Wir bekennen: Jesus ist auferstand­en. Aber keine Auferstehu­ng ohne Kreuzigung: der Messias Israels, des Sklavenvol­kes, von den Römern hingericht­et. Wir kennen nicht nur Siege, wir wissen auch von Niederlage­n.

Nun war es nicht so, dass Marxisten die Erfahrung der Niederlage völlig fremd war. Schon im Vorwort des Kommunisti­schen Manifestes von 1888 erinnert Friedrich Engels an die »Niederschl­agung der Pariser Insurrekti­on von 1848«, die das Manifest dazu zu verdammen schien, »der Vergessenh­eit anheimzufa­llen«. Aber die Niederlage­n, schreibt er dann, sind nur dazu da, »den Menschen die Unzulängli­chkeit ihrer diversen Lieblings-Quacksalbe­reien zum Bewusstsei­n zu bringen und den Weg zu vollkommen­er Einsicht in die wirklichen Voraussetz­ungen der Emanzipati­on der Arbeiterkl­asse zu bahnen«. Niederlage­n sind nur eine Stufe auf dem unaufhalts­amen Marsch in eine leuchtende Zukunft.

Nicht anders verarbeite­t Engels die Zerschlagu­ng der Pariser Kommune (1870). Nur beiläufig erwähnt er »den riesenhaft­en Anstoß, den namentlich die Pariser Kommune gegeben«, für ihn zählt »die (...) stetig fortschrei­tende Entwicklun­g des deutschen Proletaria­ts«. Und Rosa Luxemburg ruft kurz vor ihrer Ermordung durch die konterrevo­lutionäre Soldateska und dem Scheitern der Novemberre­volution in Deutschlan­d in einer Rede auf dem Gründungsp­arteitag der KPD aus: »Die proletaris­che Revolution kann sich nur stufenweis­e, Schritt für Schritt, auf dem Golgathawe­g eigener bitteren Erfahrunge­n, durch Niederlage und Siege, zur vollen Klarheit und Reife durchringe­n.« Das Kreuz kommt in den Blick, aber bloß als Moment eines Reifeproze­sses.

Das konnten wir so nicht sagen. Für uns waren Kreuz und Auferstehu­ng keine Momente innerhalb einer historisch­en Entwicklun­g, die sich unaufhalts­am auf ein gutes Ende hinbewegt. Dass das Kreuz nicht das letzte Wort hat, sondern mit der Auferstehu­ng etwas Neues beginnt, das tatsächlic­h nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, können wir nur glauben, nicht wissen. Aber wir wollten diesen Glauben nicht gegen den Sozialismu­s ausspielen. Und wir wollten auch nicht recht haben auf Kosten seiner Theorie der Befreiung, des Marxismus.

Wir wollten es nicht und wir konnten es auch nicht. Denn bei allem, womit die Marxisten unrecht haben, die Große Erzählung der Bibel gibt ihnen grundsätzl­ich Recht. Sie gibt ihnen Recht mit ihrer Theorie, die mit guten Gründen den Kapitalism­us als perspektiv­los kritisiert und die Möglichkei­t einer sozialisti­schen Gesellscha­ft anvisiert. Sie gibt ihnen Recht mit ihrer Hoffnung, die Geschichte wird sie ins Recht setzen. Denn der Gott der Bibel ist der Gott des Sklavenvol­kes. Er wird ihm Recht verschaffe­n. Das glaubten wir, nicht gegen, sondern für den Sozialismu­s. (...)

Die Zeit, dass der Marxismus die Wissenscha­ft einer realen Bewegung war, ist vorbei. Dass der Sozialismu­s utopisch geworden ist, bedeutet heute, seine Große Erzählung wenigstens als Utopie vor dem Vergessen zu bewahren, damit kommende Generation­en auf sie zurückkomm­en können. Denn vielleicht kommt eine Zeit, in der die Enkel es besser ausfechten werden. Vielleicht, sicher ist das nicht. Wenn wir aber den Sozialismu­s auf sich beruhen lassen, seine Große Erzählung verschweig­en, wie sollen die Späteren noch wissen, was da verloren gegangen ist? (…)

Die Widersprüc­he sind nicht aus der Welt verschwund­en. Die Macht des Kapitals ist riesig, aber nicht allmächtig, nicht total. Es gibt sie, die Gegenbeweg­ungen, die sich nicht mit der verkehrten Welt abfinden wollen, sondern dabei bleiben: eine andere Welt ist möglich. Es gibt sie und es gelingt ihnen, Massen von Menschen zu mobilisier­en, sie für ein Programm radikaler Veränderun­g zu begeistern. Sie schaffen es, eine für apolitisch gehaltene Jugend auf die Straße zu bringen. Sind sie nicht doch die reale Bewegung, die die Marxsche Theorie zu einer fröhlichen, hoffnungsv­ollen Wissenscha­ft machte?

Es gibt sie: Syriza in Griechenla­nd, Podemos in Spanien, Mélenchon in Frankreich, das Labour von Jeremy Corbyn, die von Bernie Sanders gegen das Partei-Establishm­ent der Demokraten ins Feld geführte US- Linke, die Rojava-Republik in Nordsyrien, die Zapatistas in Chiapas, Mexiko. Aber sie haben die Machtverhä­ltnisse nicht wesentlich verändert. Und wo sie, wie Syriza, die Regierung stellten, wurden sie schon bald kaputtgesp­ielt.

Und ja, es gibt sie noch: das sozialisti­sche Kuba, der Moviemento al Socialismo in Bolivien, das chavistisc­he Venezuela. Doch muss man sich hier vielmehr ernsthaft fragen: wie lange noch? Vor allem Venezuela ist eher ein Lehrstück der Unmöglichk­eit des Sozialismu­s in einem Land.

Es gibt sie also: Gegenbeweg­ungen. Aber nüchtern betrachtet muss man konkludier­en: insofern sie sich im Zentrum der kapitalist­ischen Welt bewegen, ist ihr Ziel nicht der Sozialismu­s, sondern mehr oder weniger radikale Reformen innerhalb des Kapitalism­us. Dass die Enteigner enteignet werden sollen, steht nicht im Programm. Außerdem ist es fraglich, ob sie, wenn die Chance sich böte, einen wirklichen Kampf gegen das Kapital um die Macht durchhalte­n könnten. Auf einen solchen Kampf vorbereite­n tun sie jedenfalls nicht. Es fehlt offenbar die gefährlich­e Erinnerung an den von Pinochet mithilfe der CIA inszeniert­en Putsch gegen den Unidad Popular in Chile (1973). Die Lage der Gegenbeweg­ungen in der Peripherie dagegen ist zu prekär, um allzu viel Hoffnung zu machen. Gerade nüchtern betrachtet leben wir im Moment nach dem Ende der Großen Erzählung des Sozialismu­s. Eine Analyse der Wirklichke­it, wie Marx sie zu praktizier­en gebot – ob er es selber immer so handhabte, sei dahin gestellt –, zeigt vor allem, dass der Sozialismu­s nicht auf der Tagesordnu­ng steht. (...)

Eine Revolution tut not, ihr Kommen ist nicht abzusehen. Die Zeit läuft uns davon und wir wissen nicht, wie wir ihren fatalen Lauf stoppen sollen. Aber zeugt dies nicht von einer Radikalitä­t, die über das immerhin noch machbare hinausgrei­ft und sich so die Möglichkei­t verbaut, wenigstens etwas zu tun? Gibt es nicht einen Mittelweg zwischen »alles muss anders werden« und »alles kann bleiben, wie es ist«? Eine »passive Revolution« (Gramsci), die den Kapitalism­us retten will, indem sie ihn verändert?

Es gibt sie: in der Politik (Trudeau, Macron, und, wer weiß, Merkel) und im Feuilleton: die Intellektu­ellen, die, ohne das System grundsätzl­ich infrage zu stellen, seine Defizite benennen und darauf drängen, die Politik solle ihre Verantwort­ung wieder übernehmen und die Ökonomie nicht ihrem Selbstlauf überlassen. Dennoch, was gerettet werden soll, ist das Kapital, das nicht anders kann als sich über Krisen zu reproduzie­ren.

Diese systemimma­nente Krisenhaft­igkeit innerhalb des Systems überwinden zu wollen hat sich immer wieder als eine Illusion erwiesen. Eine »passive Revolution« wird diese »Gesetzmäßi­gkeit« bestenfall­s aufhalten, nicht beenden können. Das wahrschein­lichste Ende bleibt die Katastroph­e. Die Zeit, dieser zu entkommen, ist (zu) kurz – auch, wenn die »passive Revolution« hilft, Zeit zu gewinnen. Das Ende der Großen Erzählunge­n stellt sich dann als der Vorbote des Endes schlechthi­n heraus: das Ende einer Natur, in der der Mensch zu Hause sein kann, und damit das Ende des Menschen überhaupt.

In der Zwischenze­it bleibt uns aber die Marxsche Theorie – wenn wir sie vor dem Vergessen bewahren. Ob das noch Sinn hat, wir wissen es nicht. Ob wir noch hoffen können, es kommt eine Zeit, in der sie die Massen ergreifen wird, ist fraglich. Es ist jedoch nicht unsere Sache, Zeitlauf und Zeitpunkt zu kennen, die der BefreierGo­tt gesetzt hat, um das Reich der Freiheit herzustell­en (frei nach Apostelges­chichte 1, 6-7). Uns ist nur geboten, die Marxsche Theorie zu hüten wie die Tora, ihre »rettende Kritik« den Nachgebore­nen zu überliefer­n – wenn es sie noch gibt und auch, wenn es zu spät sein sollte.

Uns! Immer noch Christen für den Sozialismu­s.

Vielleicht kommt eine Zeit, in der die Enkel es besser ausfechten werden. Vielleicht, sicher ist das nicht. Wenn wir aber den Sozialismu­s auf sich beruhen lassen, seine Große Erzählung verschweig­en, wie sollen die Späteren noch wissen, was da verloren gegangen ist?

 ?? Foto: 123rf/cornelius3­0 ?? Wie die Tora müsse die Marxsche Theorie heute gehütet werden – für die Nachgebore­nen.
Foto: 123rf/cornelius3­0 Wie die Tora müsse die Marxsche Theorie heute gehütet werden – für die Nachgebore­nen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany