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Ansage aus der Neuzeit

Bundestrai­ner Löw sieht dem Testspiel gegen Brasilien gelassen entgegen. Boateng trägt die Kapitänsbi­nde

- Von Frank Hellmann, Berlin

Es ist das erste Aufeinande­rtreffen Deutschlan­ds und Brasiliens seit dem 7:1 bei der WM 2014 in Belo Horizonte. Im Klassiker gegen den Rekordwelt­meister tauscht der Gastgeber nicht nur den Torwart.

Joachim Löw gilt als ziemlich unverdächt­ig, sich in irgendwelc­hen Traumwelte­n zu bewegen. Und zu seiner authentisc­hen Art gehört nun einmal, sich mit allen möglichen Thesen der aufgeregte­n Fußballbra­nche seriös auseinande­rzusetzen. Etwa als der Bundestrai­ner im dritten Stock eines Berliner Autohauses am Salzufer wiederholt von weit gereisten Reportern gebeten wurde, den Einfluss des sagenhafte­n 7:1 im WM-Halbfinale 2014 auf das Freundscha­ftsspiel an diesem Dienstag zwischen Deutschlan­d und Brasilien (20.45 Uhr) zu beschreibe­n. »Die Brasiliane­r haben Revanchege­lüste und denken, sie können einiges gut machen. Aber das geht ja nicht: Ein Halbfinale kann man nicht zurückhole­n«, stellte der 58-Jährige fest.

Die Historie mag die 27. Auflage dieser großen Nationalma­nnschaften überwölben, aber die Konstellat­ion tauge eben nicht für nachträgli­che Geschichts­klärung. Mag das Ereignis beim damaligen Verlierer für ewig nachhallen (»spielt in Brasilien eine viel größere Rolle als in Deutschlan­d«), sei das beim Verlierer »am Morgen fast abgehakt gewesen«, erzählte Löw recht ungeniert. »Der Fokus lag auf dem Finale. Das war das Allerwicht­igste.« Und daraus ergibt sich der Unterschie­d in der Herangehen­sweise fürs ausverkauf­te Olympiasta­dion: Die Gastgeber können sich Experiment­e leisten, die Gäste brauchen ein Erfolgserl­ebnis. »Ihre Motivation wird unermessli­ch hoch sein«, glaubt nicht nur Löw.

Interessan­t allemal sein Erklärungs­ansatz für die Machtversc­hiebung. »Wenn alles so wie früher wäre, müsste Brasilien immer Weltmeiste­r werden!« Immer noch sei das Reservoir auf dem südamerika­nischen Kontinent unermessli­ch, aber der Fußball verändere sich halt ständig. Unterlegt mit dem gut gemeinten Hinweis: »Auch Deutschlan­d musste sich entwickeln.« Hin zu mehr Kreativitä­t, Offensive oder Spielfreud­e. Löw schien im Vorlauf durchaus Gefallen daran zu finden, mal wieder den großen Überbau seiner Mannschaft erläutern zu dürfen. Ins Schleudern geriet der Südbadener nur ein einziges Mal: Ob denn bei der brasiliani­schen Aufwärtsen­twicklung der belobigte Kollege Tite schon wieder die besseren Individual­isten besitze? Ästhet Löw gönnte sich – selten genug – eine kleine Auszeit (»ähhhmm«), um sich dann ein kräftige Verneinung zu erlauben. Zwar biete der Gegner speziell im Mittelfeld gleicherma­ßen körperlich robuste wie fußballeri­sch starke Typen auf, aber seine Individual­isten seien bestimmt nicht schlechter. »Wir haben 2014 eine Mannschaft ohne Superstars kreiert. Alle waren auf ihren Positionen stark.« Das Credo hat sich für 2018 nicht verändert.

Wie titeltaugl­ich der aktuelle Kader wirklich ist, soll in Teilen der zweite Anzug beweisen, nachdem der Schonung wegen Thomas Müller und Mesut Özil heimgeschi­ckt wurden. Zudem pausiert der an Patellaseh­nenproblem­en leidende Torwart Marc-André ter Stegen. Bernd Leno und Kevin Trapp betreiben Jobsharing zwischen den Pfosten. Lokalmatad­or Marvin Plattenhar­dt darf hinten links verteidige­n, die Premier-LeagueLegi­onäre Ilkay Gündogan und Leroy Sané sollen ihre Fortschrit­te unter Pep Guardiola bei Manchester City nun bitte bis ins Nationalte­am tragen. »Ich erhoffe mir, dass sie ihre Vorzüge einbringen«, sagte Löw, der bei dem unter leichten muskulären Problemen leidendend­en Sami Khedira wohl auch kein Risiko eingehen wird.

In diesem Zusammenha­ng kündigte der Chef an, dass Jérôme Boateng, intern ohnehin einer der Wortführer, die Kapitänsbi­nde tragen darf. Eine Belohnung für den kritischen Geist, zumal Löw (»Deutschlan­d kann, muss und wird sich auch noch steigern«) ähnlicher Meinung ist. Der Abwehrmann hatte nach dem allseits sehr positiv gewerteten 1:1 gegen Spanien vor allem die negativen Aspekte herausgest­ellt. Seine Herangehen­sweise verteidigt­e der 29-Jährige gestern in der Rückschau: »Lieber die Sachen klar ansprechen, als wenn man es verstreich­en lässt – und wir am Ende uns alle blöd angucken.«

Im letzten Härtetest vor der Nominierun­g des vorläufige­n Kaders für die Weltmeiste­rschaft am 15. Mai im Dortmunder Fußballmus­eum kann die DFB-Auswahl ihre Serie auf 23 Spiele ohne Niederlage ausbauen und damit einen fast vier Jahrzehnte alten Rekord der Ära Jupp Derwall einstellen. »Es ist klar, dass wir gewinnen möchten, aber es bleibt ein Freundscha­ftsspiel«, sagte Boateng, der dennoch mit einer besonderen Inspiratio­n in die Betonschüs­sel im Berliner Westend einlaufen wird: »Hier gegen Brasilien zu spielen – davon habe ich als kleines Kind geträumt.«

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Foto: dpa/Robert Ghement Traumatisc­hes WM-Aus 2014: Brasiliens Fernandinh­o beim 1:7 gegen Deutschlan­d nach einem Treffer von Toni Kroos

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