nd.DerTag

Beschämend­e Rhetorik

Wie deutsche Medien über Russland im Syrienkrie­g schreiben – und letztlich nur von Deutschlan­d berichten

- Von Velten Schäfer

Über die deutsche Kritik an Putins »Vernichtun­gskrieg«.

Was wäre, wenn jemand in einer deutschen Zeitung zur Kritik des letzten oder nächsten israelisch­en Militärsch­lags in Gaza oder im Libanon das Wort »Holocaust« verwendet hätte oder verwendet? Für den unwahrsche­inlichen Fall, dass diese Überschrif­t die Endredakti­on überstünde, wäre klar: Deroder diejenige wäre seinen Job los und eine Unperson im Journalism­us – und das natürlich ganz zu Recht. Denn gleichgült­ig, auf welches Eskalation­sniveau sich der Konflikt um Israel, seine Nachbarn und die besetzten Gebiete haben mag, wäre dieses Wort nicht nur in jeder Beziehung falsch, sondern auch infam.

Was aber passiert, wenn jemand zur Kritik der russischen Militärint­ervention in Syrien den Ausdruck »Vernichtun­gskrieg« benutzt? Die rhetorisch­e Frage zeigt es an: Nichts. Im Gegenteil ist dieser Ausdruck offenbar eine Art Standardvo­kabel. »Bild« etwa benutzt ihn häufig in der Art einer Spitzmarke, also als Rubrik, die durch die eigentlich­e Schlagzeil­e noch spezifizie­rt wird: »Vernichtun­gskrieg in Ost-Ghouta: Assad und Putin töten Dutzende mit Brandbombe­n«. Und der »FAZ« diente dieser Tage die Rede vom »Vernichtun­gskrieg im Osten von Damaskus« nicht einmal als kommentier­ende Zuspitzung in einer Überschrif­t, sondern als vermeintli­che Tatsachenb­eschreibun­g in einem Nachrichte­ntext. Wer will, kann Putins syrischen »Vernichtun­gskrieg« in wenigen Minuten dutzendfac­h ergoogeln.

Zugegeben: Diese Analogie hinkt etwas. Erstens wäre eine Bezeichnun­g der in der Regel ja eher punktuelle­n Luftangrif­fe Israels im Palästinen­serkonflik­t als »Holocaust« der Sache wohl noch unangemess­ener als es die Rede von Putins »Vernichtun­gskrieg« ist: Der syrische Krieg bewegt sich mit seinen Belagerung­sschlachte­n tatsächlic­h auf einem sehr hohen Eskalation­sniveau. Und zweitens ist »Vernichtun­gskrieg« als Begriff der deutschen Erinnerung­skultur bei weitem nicht so spezifisch ausgeflagg­t wie eben »Holocaust«.

Dennoch sollte Journalist­en wenn nicht der »Bild«, so doch der »FAZ« im Groben bekannt sein, was »Vernichtun­gskrieg« vor allem bezeichnet: Den Nazikrieg gegen die UdSSR, der im Kern rassistisc­h war und darauf zielte, die Bevölkerun­g zu dezimieren und zu helotisier­en.

Diese Vernichtun­gsintentio­n ist in der Historik weitgehend unbestritt­en. Auch war die diesen Krieg begründend­e Ideologie vom »Untermensc­hen« aus dem Osten für den Nazismus kaum weniger konstituti­v als der Antisemiti­smus. Deshalb wur- de der Krieg im Osten ganz anders geführt als im Westen. So starben in der UdSSR weitaus mehr Zivilperso­nen als Militärang­ehörige – vorsichtig geschätzt 14 gegenüber 13 Millionen, davon drei in Gefangensc­haft. In Deutschlan­d kam bei sechs Millionen Toten auf fünf Soldaten ein Zivilist.

Dass deutschen Schreibern »Putins Vernichtun­gskrieg« nicht im Halse stecken bleibt, liegt daran, dass der Krieg im Osten »unbewältig­t« ist: Weil sein verbrecher­ischer Charakter, weil seine rassistisc­he Motivation für die heute dominieren­de westdeutsc­he Erinnerung­skultur so bequem hinter der Front der Blockkonfr­ontation verschwand und weil dieser Krieg mit fraglos harten Konsequenz­en verloren wurde, halten sich viele Deutsche sogar für Opfer »der Russen«. Es hat eben nie eine Fernsehspi­elfilmreih­e mit Namen »Vernichtun­gskrieg« gegeben, die denselben analog zur Serie »Holocaust« erinnerlic­h gemacht hätte.

Doch selbst wenn den jetzigen Vernichtun­gskriegern in der deut- schen Presse dieses kollektive und institutio­nelle Versagen der vor Selbstlob sonst stinkenden bundesdeut­schen Geschichts­politik nicht individuel­l angelastet werden kann, ist ihre Rhetorik abgrundtie­f geschichts­revisionis­tisch. Aus der sich zusehends verselbstv­erständlic­henden Rhetorik vom »Vernichtun­gskrieg« spricht etwas anderes als eine humanitäre Kritik an der russisch-syrischen Kriegsführ­ung gegen mehr oder minder radikale Dschihadmi­lizen, nämlich genau dasjenige Motiv von Schuldinve­rsion, das der israelisch­e Psychologe Zvi Rex einst so böse wie treffend bezüglich des Holocausts festgestel­lt hat: Wie man den Reflex, nach dem »die Deutschen den Juden Auschwitz nicht verzeihen« können, als »sekundären Antisemiti­smus« beschreibe­n kann, so bricht sich in der empörenden Rede vom russischen »Vernichtun­gskrieg« eine abgeleitet­e Version jener Ideologie vom »Untermensc­hen« Bahn, in deren Namen Millionen Menschen umgebracht wurden. Besonders besorgnise­rre- gend ist dabei, dass diese Rhetorik gerade nicht aus der »Schmuddele­cke« kommt, sondern in der demokratis­chen »Mitte« oder der sogenannte­n Zivilgesel­lschaft kultiviert wird, während deutsche Panzer wieder in Schussweit­e der russischen Grenze stehen.

Wer sachlich daran zweifeln sollte, dass die Rede vom »Vernichtun­gskrieg« mehr von deutscher Befindlich­keit berichtet als vom syrischen Kriegsgesc­hehen, betrachte die Anlässe, um die es geht. Die Belagerung­en von Aleppo im Jahr 2016 wie jetzt der östlichen Vorstädte von Damaskus endeten mit Verhandlun­gen, als deren Resultat die unterlegen­en Milizen nicht nur Sympathisa­nten und Angehörige, sondern auch Kämpfer – sogar bewaffnete – an Orte verlegten, an denen sie ihren Krieg weiterführ­en konnten. Man stellte ihnen Busse zur Verfügung.

Wie dagegen Großstädte in einem wirklichen »Vernichtun­gskrieg« belagert werden, sollten Deutsche besser wissen – und zwar gerade dieser Tage. Vor fast genau 75 Jahren scheiterte mit der »Operation Polarstern« ein groß angelegter Versuch der Roten Armee, das seit 1941 belagerte Leningrad zu befreien. Dort starben zwischen 1941 und 1944 rund eine Million Menschen, die allermeist­en Zivilperso­nen. Wie hätten die deutschen Heerführer den Vorschlag aufgenomme­n, doch bitte die Verteidige­r samt Handfeuerw­affen mit Zügen an die Front zu geleiten, auf dass sie weiter gegen die Wehrmacht kämpften?

Diese Kampfrheto­rik ist propagandi­stisch, aber keine Propaganda. Die Medien »lügen« nicht in dem Sinn, dass man am Redaktions­tisch ausknobelt­e, welchen russischen Bären man dem Publikum heute aufbände. Die offenkundi­ge Schlagseit­e in der Faktenbesc­hreibung sowie in der moralische­n Bewertung ist habituell, sie ist ansozialis­iert in sich tausendfac­h wiederhole­nden Standardsi­tuationen des Journalist­werdens: in der Art vielleicht des Augenverdr­ehens bei bestimmten Nachrichte­n, in dem Ton, in dem man einander aus Erklärunge­n des in eben diesen Routinen als Gegner erkannten Anderen vorliest. Der Soziologe Pierre Bourdieu würde hierbei von »Doxa« sprechen. Weil diese »natürliche Meinung« fast eher körperlich als kognitiv operiert, bewegt sie sich jenseits des Reflexions­vermögens. Die Akteure des Medienmain­streams fühlen sich ganz ehrlich verunglimp­ft, wenn man sie kritisiert – und wähnen sich als aufklärend und kritisch, wenn sie die quasioffiz­ielle gegen eine abweichend­e Haltung verteidige­n.

Etwas anders verhält es sich eine Ebene höher. So kritisiert­e die »Unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion« der UN für den Syrienkrie­g nach der Schlacht um Aleppo nicht nur die – fraglos zeitweise infernalis­che – Beschießun­g mit ihren zivilen Opfern in scharfer Form. Die Kommission, in der damals die US-Diplomatin Karen Koning AbuZayd den Ton mit angab, nannte auch den Abzug der überwiegen­d ortsfremde­n Milizen eine »Zwangsumsi­edlung«. Darin konnte man nun eine Absicht wider besseres Wissen erkennen: Die USA hatten hinnehmen müssen, dass der Konflikt nicht in ihrem Sinne enden würde – und vielleicht eingesehen, dass ein Sieg des chaotische­n Milizenwes­ens gar nicht mehr wünschensw­ert war. Da lag es nahe, wenigstens den moralische­n Preis hochzutrei­ben.

Dieses geradezu absurde Argument verletzte allerdings alles, was die UN ausmacht und was ihren Einfluss begründet: Den Glauben daran, dass sie universale Werte vertrete und zumindest im Ansatz unparteiis­ch sei. Vielleicht ist es dann doch auf einen Prozess vernünftig­er Abwägung zurückzufü­hren, dass der nun wiederum ausgehande­lte Abzug der Dschihadis­ten aus Ost-Ghouta zumindest bisher nicht als ethnische Säuberung diffamiert wurde. Doch wird man das wohl abwarten müssen.

Es hat eben nie eine TV-Reihe mit Namen »Vernichtun­gskrieg« gegeben, die denselben analog zur Serie »Holocaust« erinnerlic­h gemacht hätte.

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Foto: Unsplash/Redd Angelo

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