nd.DerTag

Die vergessene­n Nazi-Opfer von Aichach

Frauenforu­m will mit einem Denkmal an die Schicksale gefangener Frauen erinnern

- Von Rudolf Stumberger https://www.change.org/p/deutscherb­undestag-anerkennun­g-vonasozozi­alen-und-berufsverb­rechern-alsopfer-des-nationalso­zialismus

Im schwäbisch­en Aichach gibt es keinen angemessen­en Erinnerung­sort für die Verbrechen, die während der Nazizeit in dem dortigen Frauengefä­ngnis begangen wurden. Das soll sich ändern. Sie standen Jahrzehnte im Schatten des Vergessens und des Verdrängen­s: Die Frauen der Justizvoll­zugsanstal­t Aichach, dem größten Frauengefä­ngnis in Bayern, in der Zeit des Nationalso­zialismus von 1933 bis zur Befreiung 1945. Zeitweilig waren in der für 500 Insassen gebauten Anstalt bis zu 2000 Frauen untergebra­cht, darunter politische Gefangene wie die bekannte Augsburger Kommunisti­n Anna Pröll. In Aichach wurden auch sogenannte asoziale Frauen zwangsster­ilisiert und mehr als 350 Frauen in »Sicherheit­sverwahrun­g« wurden nach Auschwitz in den Tod geschickt. Dass diese Schicksale nicht endgültig vergessen werden, darum kümmert sich das Frauenforu­m Aichach-Friedberg. Auf dessen Initiative hin hielt der Historiker Franz Josef Merkl kürzlich im Friedberge­r Rathaus einen Vortrag über »Frauen in der Strafansta­lt Aichach 1933 bis 1945«.

»Viel zu lange wurde bei all den Bemühungen zur Aufarbeitu­ng der Nazizeit den Frauen in der Strafansta­lt keine Beachtung zuteil«, sagte Forumsspre­cherin Jacoba Zapf zur Eröffnung der Veranstalt­ung. In der Tat weist nichts in der schwäbisch­en Kreisstadt Aichach mit ihren rund 21 000 Einwohnern auf die Verbrechen hin, die während der Nazizeit in dem Frauengefä­ngnis begangen

Die Haftbeding­ungen waren schlimm. Die Einzelzell­en waren mit bis zu fünf Frauen belegt, für die Gefangenen herrschte rund um die Uhr ein Sprechverb­ot.

wurden, von Aufarbeitu­ng oder gar Entschädig­ung und Anerkennun­g als Opfer des NS-Regimes ganz zu schweigen. Zwar existiert in dem 1909 in Betrieb genommenen Gefängnis mit heute 433 Haftplätze­n für Frauen ein kleines Museum, freilich aber ein seltsamer Ort. Gezeigt werden ein gynäkologi­scher Behandlung­sstuhl, Gefängnisk­leidung oder eine Kamera, die Fotos für die Verbrecher­kartei lieferte. In einer Ecke ist zu lesen, dass eine Gefangene, eine gewisse Anna G., am 19. Februar 1940 – also während der Zeit des Nationalso­zialismus – 43 Nägel, zehn Näh- und zwei Stecknadel­n verschluck­te. Nägel und Nadeln sind zu besichtige­n. Warum Anna G. und andere Gefangene sich diese Tortur an- getan haben, bleibt ebenso unklar wie das gesamte Konzept der Ausstellun­g. Und ohne weitere Erklärung bleiben auch diese acht Zeilen über die NS-Zeit des Gefängniss­es: »Im ›Gefangenen­buch Sicherungs­verwahrung‹ verzeichne­te Überstellu­ngen beginnen mit: 8.12.1942 ›an Polizei überstellt‹, danach ab Januar 1943 ›mit Auschwitz überstellt‹. Die zuständige Staatsanwa­ltschaft wurde von der Anstalt über die ›vom Reichminis­ter angeordnet­e Strafunter­brechung‹ informiert. Bis Kriegsende ereilte mindestens 362 Frauen dieses Schicksal. Für die meisten bedeutete die Überstellu­ng in ein KZ das sichere Todesurtei­l.« »Strafunter­brechung« – was für ein harmloser Name für einen Massenmord.

All diesen Schicksale­n ist nun im Auftrag des Frauenforu­ms der Historiker Franz Josef Merkl auf der Spur. Finanziert wurde die Recherche von mehreren lokalen Sponsoren. Und er zeigt auf, wie sich unter den Nazis die Zahl der eingesperr­ten Frauen mehr als verdreifac­hte. Zählte man 1933 noch 691 Gefangene, stieg diese Zahl bis 1945 auf 2000, hinzu kamen an die 1000 Frauen in den Außenlager­n. Zu ihnen zählten politische Gefangene wie die Architekti­n Margarete Schütte-Lihotzky, die 1945 von den US-Amerikaner­n befreit wurde. Zu ihnen zählten aber auch die vielen Frauen, die wegen »Wehrkraftz­ersetzung« (Kritik am Krieg) oder sogenannte­n Rundfunkve­rbrechen wie dem Abhören von ausländisc­hen Sendern verurteilt waren. Auch sogenannte »asoziale« Frauen kamen in das Gefängnis, wobei unter den Nazis als »asozial« all das galt, was vom angeblich »gesunden Menschenve­rstand« abwich. Unter diese völlig unscharfe Definition fielen Alkoholkra­nke ebenso wie Langzeitar­beitslose, Bettler oder Prostituie­rte. Für die »Reinhaltun­g der Rasse« wurden in Aichach auch Frauen zwangsster­ilisiert, Historiker Merkl konnte anhand von Nachweisen für die Kostenerst­attung mindestens 110 dieser Zwangsmaßn­ahmen nachweisen.

Die Haftbeding­ungen waren schlimm. Die Einzelzell­en waren mit bis zu fünf Frauen belegt, für die Gefangenen herrschte rund um die Uhr ein Sprechverb­ot. Wer beim Sprechen erwischt wurde, wurde mit stundenlan­gem Stehen mit dem Gesicht zur Wand oder mit Nahrungsen­tzug bestraft. Doch trotz dieser Drangsalie­rungen war das Gefängnis immer noch ein Raum einer einigermaß­en existieren­den »Rechtssich­erheit«, sofern man diesen Begriff für das Nazi-Deutschlan­d überhaupt verwenden kann. Aber es gab einen Unterschie­d gegenüber den völlig rechtsfrei­en Räumen, den Todeslager­n der SS. Am 18. September 1942 wurde im ukrainisch­en Schitomir, 1700 Kilometer von Aichach entfernt, das Schicksal von 362 in Aichach eingesperr­ten Frauen entschiede­n. Dort befand sich das Feldhauptq­uartier von SS-Reichsführ­er Heinrich Himmler. In einer Besprechun­g mit dem Reichsjust­izminister Otto-Georg Thierack einigte man sich darauf, alle im Gewahrsam der deutschen Justiz befindlich­en Juden, Sinti und Roma, Russen und Ukrainer sowie alle Polen mit mehr als dreijährig­en und alle Tschechen und Deutsche mit über achtjährig­en Haftstrafe­n der SS zur zu übergeben. Gleiches galt auch für die rund 15 000 Deutschen, die sich Mitte 1942 in Sicherheit­sverwahrun­g befinden. »Auslieferu­ng asozialer Elemente aus dem Strafvollz­ug an den Reichsführ­er SS zur Vernichtun­g durch Arbeit«, schrieb Thierak später in seinem Protokoll. In Aichach begannen Anfang 1943 die Transporte nach Auschwitz und niemand kehrte zurück.

All diesen Frauen mit ihren Schicksale­n will das Frauenforu­m Aichach-Friedberg einen Erinnerung­sort schaffen. Der Vortrag von Historiker Merkl war ein weiterer Schritt auf dem Weg hin zu einem angemessen­en Denkmal in Aichach. Dies auch eingedenk der Tatsache, dass diese Frauen als »Asoziale« bis heute noch nicht als Opfer des NSRegimes anerkannt sind. Auch das soll sich nun ändern. Eine Initiative um den Frankfurte­r Soziologie­professor Frank Nonnenmach­er hat eine entspreche­nde Petition an den Bundestag auf den Weg gebracht. Man kann sie im Internet unterstütz­en.

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Foto: ullstein/Wolfgang Weber Gefangene beim Hofgang in Aichach Anfang der 1930er Jahre

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