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Der Blick von ganz unten

Zum 150. Geburtstag Maxim Gorkis gibt es eine neue Übersetzun­g seiner frühen Erzählunge­n

- Von Thomas Möbius

Anfang 1899 schrieb Anton Tschechow seinem Verleger Alexej Suworin: »Lesen Sie den Belletrist­en Gorki? Das ist zweifellos ein Talent. Wenn Sie ihn nicht gelesen haben, dann lassen Sie sich seine Bände kommen.« Maxim Gorki hatte Tschechow im Jahr zuvor die eben erschienen­e zweibändig­e Sammlung seiner ersten Erzählunge­n geschickt. Tschechow antwortete ihm: »Sie haben zweifellos Talent, und zwar ein großes, echtes Talent. Es äußert sich zum Beispiel in der Erzählung ›In der Steppe‹ mit ungewöhnli­cher Kraft, und mich hat sogar der Neid gepackt, dass nicht ich sie geschriebe­n habe.«

Zum hundertfün­fzigsten Geburtstag Gorkis hat der Aufbau Verlag – zu DDR-Zeiten erschien dort schon eine große Werkausgab­e – jetzt siebzehn jener frühen Erzählunge­n Gorkis neu herausgebr­acht. Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt, die ihnen frischen Glanz gibt. Womit nicht gesagt sei, dass die früheren Übersetzun­gen schlecht sind. Doch ist die neue ein überfällig­er Anstoß, Gorki wieder zu lesen und neu zu entdecken. Ein passendes Geburtstag­sgeschenk.

Gorki – der Bittere, das Pseudonym, unter dem er seit seiner ersten Erzählung auftrat. Er gibt den von der Industrial­isierung Entwurzelt­en, denen, die am Rand der Gesellscha­ft leben, eine Stimme. Die Helden seiner Geschichte­n sind die Vagabunden, Bettler, die sogenannte­n Barfüßler, die übers Land zogen und sich mit Gelegenhei­tsarbeiten und Diebereien durchschlu­gen. Gorki kannte sie. Er hatte unter ihnen gelebt. Aus ärmsten Verhältnis­sen kommend, wanderte er in seiner Jugend mehrere Jahre durch Südrusslan­d, die Wolga und den Don entlang, bis zum Kaukasus. »Meine Universitä­ten« nannte er später jene Zeit.

In kraftvolle­n, plastische­n Bildern zeigt er das Leben ganz unten: das Elend und die seelische Not, die Gewalt. Der Hunger ist ständig präsent. »Der Bauch, das ist das Wichtigste am Menschen … wenn der Ruhe hat, dann ist auch die Seele lebendig: alles menschlich­e Tun kommt vom Bauch«, grübelt der Vagabund Jemeljan Piljai über seinen leeren Magen. Ein anderer schlägt »mit den Zähnen Trommelwir­bel zu Ehren von Hunger und Kälte«.

Gorki schlug einen neuen Ton an. Seine Figuren unterschei­den sich von den traditione­llen Bildern des »einfachen Volkes«. Er beschreibt sie nicht mit Mitleid und will keine moralische Empörung für sie. Nach dem Raubmord an einem armen Tischler heißt es am Ende der Erzählung »In der Steppe« lapidar: »Keiner ist an irgendwas schuld, denn wir sind alle gleicherma­ßen Vieh.« Gorki idealisier­t auch nicht die Bauern. Im Gegenteil, gerade sie sind bei ihm vom »wölfischen Leben in Neid und Habgier« und von gewalttäti­ger Grausamkei­t beherrscht. Mit am eindrückli­chsten sind die Erzählunge­n über ein Pogrom, in dem die Menschenme­nge lustvoll in Raserei aufgeht, und über die ›Bestrafung‹ einer untreuen Ehefrau: Nackt an einen Karren gebunden, wird sie durchs Dorf getrieben und geschlagen. Nur das Pferd, das den Wagen zieht, hat Mitleid: »Wie gemein, ein Vieh zu sein! Für jede Abscheulic­hkeit wird man von den Menschen benutzt …«

Gorkis Barfüßler-Helden sind arm, grob und ungebildet, aber stolz und von vitaler Kraft. Sie kümmern sich nicht um Gesetz und moralische Normen. Vogelfrei, lieben sie ihre Freiheit. In »Tschelkasc­h« fleht der Bauernjung­e Gawrila den Dieb Tschelkasc­h an, ihm das ganze Geld zu geben, das sie bei einem Diebeszug im Hafen erbeuteten; ein Stückchen Land wolle er damit kaufen. Tschel- kasch wirft es ihm vor die Füße: Er »blickte in das strahlende, vom Triumph der Habgier verzerrte Gesicht und fühlte, dass er – der Dieb und Herumtreib­er, der vollkommen Entwurzelt­e – nie so habgierig, so klein und würdelos sein würde.« Da ist viel Pathos, viel anarchisti­sche Rebellion. Doch am Ende erzählen die Geschichte­n immer davon, wie Menschen versuchen, ihre Würde zu bewahren.

Gorkis Mischung aus schonungsl­osem Realismus und anarchisti­scher Romantik traf den Nerv der Zeit. Die ab 1892 in Zeitschrif­ten veröffentl­ichten Erzählunge­n machten ihn schlagarti­g berühmt. Spätestens sein Drama »Nachtasyl« von 1902 brachte ihm dann den Welterfolg. In ihrem Nachwort zeichnet Christa Ebert mit Gespür für die Ambivalenz­en Gorkis weiteren Weg zwischen Literatur und Politik nach: »Dabei sind sich die Kritiker einig, dass Gorkis literarisc­he Blütezeit nur eine kurze Zeitspanne umfasste: Sein Stern ging auf in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunder­ts, erglühte noch einmal in der Mitte der zwanziger Jahre, um dann im Mittelmaß und publizisti­schen Geschäft zu verglimmen. Mit seinem Aufstieg zum sowjetisch­en Staatsauto­r unter Stalin hatte er einen zweifelhaf­ten Ruhm erlangt.«

In den Zeiten des Kalten Krieges war das Bild Gorkis zwischen den Fronten festgezurr­t. Im Osten: »sowjetisch­er Klassiker«, der »die weltanscha­uliche und ästhetisch­e Programmat­ik des sozialisti­schen Realismus« begründete. Ausgeblend­et u. a., dass Gorki, der sich 1903 den Bolschewik­i angeschlos­sen hatte, die Oktoberrev­olution zunächst vehement verurteilt­e. In seinen »Unzeitgemä­ßen Gedanken«, einer Artikelser­ie in der Zeitung »Nowaja Schisn« 1917 bis 1918, kritisiert­e er Lenin, dass er mit seinem Terror diese so- zialistisc­hen Ideale verrate und ein »grausames Experiment« veranstalt­e: »Blinde Fanatiker und gewissenlo­se Abenteurer rasen Hals über Kopf angeblich der ›sozialen Revolution‹ entgegen. In Wirklichke­it aber ist dies der Weg in die Anarchie, in den Untergang des Proletaria­ts und der Revolution.« 1921 verließ Gorki dann auf Drängen Lenins Russland.

Die vorherrsch­ende Sicht im Westen dagegen: ein »mittelmäßi­ger, langweilig­er Traditiona­list«, »Staatsdich­ter», der sich in den Dienst Stalins stellte und nur durch seine politische Karriere in die Literaturg­eschichte einging.

Die Fronten zeigten sich schon in den 1920er Jahren. Gorki war dreimal für den Nobelpreis nominiert. Das Komitee lehnte ihn ab mit der Begründung, Gorki stehe »im Dienst des Bolschewis­mus«, seine Ehrung wäre eine »gefährlich­e Reklame« für das neue Russland.

Gorki wird umstritten bleiben, vor allem für seine kulturpoli­tische Rolle nach seiner Rückkehr in die Sowjetunio­n. Doch nunmehr jenseits der ideologisc­hen Urteile, die die Lektüre verstellte­n und verhindert­en, ist er wiederzuen­tdecken als jemand, der von ganz unten erzählt. Und der an das Gute im Menschen glaubte und an die Kraft der Kunst, »die Menschen Liebe, Glaube und Hoffnung zu lehren«.

Eine altmodisch­e Haltung? Anfang 1900 schrieb Gorki an Tschechow: »alle wollen etwas Aufrütteln­des, Lebhaftes, etwas, das nicht wie das Leben ist, sondern höher als das Leben, besser, schöner.«

Da ist viel Pathos, viel anarchisti­sche Rebellion. Doch am Ende erzählen die Geschichte­n immer davon, wie Menschen versuchen, ihre Würde zu bewahren. »Der Wohlstand beginnt genau dort, wo der Mensch anfängt, mit dem Bauch zu denken.« Norman Mailer

Maxim Gorki: Jahrmarkt in Holtwa. Meistererz­ählungen. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Mit einem Geleitwort von Olga Grjasnowa und einem Nachwort von Christa Ebert. Aufbau Verlag, 288 S., geb., 24 Euro.

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Foto: akg-images Zwei blinde russische Bettler mit Angehörige­n

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