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Eier ohne Ei und Schale

Askese und Optimierun­g: Über die Karriere des jüngeren Veganismus.

- Von Velten Schäfer

Asketisch, tierethisc­h und antikapita­listisch? Der jüngere Veganismus folgt noch ganz anderen Motiven.

Frohe Kunde zum höchsten Christenfe­st: Es gibt jetzt Ostereier für alle! Also auch für diejenigen, die keine Eier essen, weil sie das Cholesteri­n fürchten oder noch die freilaufen­dste Landbiohen­ne als ausgebeute­te Kreatur ansehen. Denn Studierend­e der Universitä­t von Udine haben, wie unlängst bekannt gemacht, das tierproduk­tfreie Ei erfunden. Also nicht nur ein Pülverchen mehr, mit dem sich Eier beim Backen ersetzen lassen, und auch nicht irgendwelc­he Klößchen, die in der Form an Eier erinnern. Sondern ein Produkt, das ganz oder aufgeschni­tten tatsächlic­h so aussieht, sich so anfühlt und angeblich auch genauso schmeckt wie ein richtiges hart gekochtes Hühnerei!

So interessan­t wie das Rezept ist dabei die Verbreitun­g der Botschaft: Die Erfindung des Nicht-Eis war nicht nur der italienisc­hen Uni so wichtig, dass die Erfinder ein Jahr in Hochschull­aboren werkeln durften, sondern sie ist ein Thema, über das auch größere Medien berichtete­n. Denn eine solche Innovation ist heutzutage eine veritable Lifestylen­achricht.

Zumindest in urbanen Zentren schießen vegane Restaurant­s und Cafés, aber auch Boutiquen, Kosmetikge­schäfte, Friseur- und Schönheits­salons nur so aus dem Boden. Nach einer Studie der »Veganen Gesellscha­ft Deutschlan­ds« leben hierzuland­e 1,5 Millionen vollständi­g vegan, hinzu kommen viele Gelegenhei­tskonsumen­ten. Die Firma Veggieworl­d veranstalt­et vegane Messen in 16 europäisch­en Metropolen. Unlängst rief das »Manager-Magazin« den Veganismus zum »Megatrend des Jahrzehnts« aus.

Blendet man nun lediglich zwei Jahrzehnte zurück, erstaunt das dann doch. Nicht nur in Berlin begegnete man um die Mitte der 1990er Jahre dem Veganismus ganz anders. Wenn die Zeitzeugen nicht irren, war damals vor allem die »Köpi« – ein bis heute bestehende­s Hausbesetz­ungsprojek­t – ein Ort, an dem der menschlich­e Gebrauch jedweden tierischen Produkts politisch und kulinarisc­h kritisiert wurde: ersteres in Veranstalt­ungen, die den Beitrag des Schlachten­s und Melkens zur Unterdrück­ung nicht nur des Tieres, sondern auch des Menschen durch den Menschen kritisiert­en. Und zweiteres in den Menüs der dortigen »Volxküche«, die das Bewegungsp­ublikum regelmäßig vegan bekochte.

Wie kommt es, dass heute die »Köpi« bestenfall­s als pittoreske­s Freilichtm­useum einer überholten Gegenkultu­r gilt, während der Veganismus, den seinerzeit selbst das Stammpubli­kum jener Vokü bisweilen für etwas abgedreht hielt, kaum aufzuhalte­n zu sein scheint?

Leicht zu beantworte­n ist diese Frage nur aus einer Überzeugun­gshaltung: Dann signalisie­rt der Vormarsch des Veganismus nichts anderes als einen erhebliche­n Fortschrit­t an sozialem Problem- und Verantwort­ungsbewuss­tsein. Aus einer distanzier­teren Position reicht das aber kaum als Erklärung, denn gesellscha­ftliche Probleme gibt es ja viele, während das Bewusstsei­n dafür im Allgemeine­n eher rar ist.

Wer verstehen will, was den heutigen Veganismus zum »Megatrend« befähigt, muss den Blick von jener Autonomens­peisung noch weiter zurück richten. Denn der pflanzenba­sierte Konsum hat eine lange Geschichte, die bestimmte Semantiken in unterschie­dlichen Weisen aufrief und miteinande­r verband – und sich auch verschiede­ne ökonomisch­e Institutio­nen schuf und schafft. In diesem Prozess von Verschiebu­ngen und Kontinuitä­ten drückt nun der zeitgenöss­ische Veganismus offenbar eine spezifisch­e Konstellat­ion aus, die ihm in der Gegenwarts­gesellscha­ft eine Avantgarde­position verschafft.

Derselben auf die Schliche kommen lässt sich in einer Rekonstruk­tion der Sinnelemen­te, die im 20. Jahrhunder­t mit pflanzenba­siertem Konsum verbunden waren und verbunden sind. Worin unterschei­det sich also der tierfreie Lifestyle von heute vom Hausbesetz­erveganism­us der 1990er Jahre? Wie verhält sich wiederum dieser zu früheren Formen, also zu den Hippie- und Ökokulture­n seit 1970 und zur »Lebensrefo­rmbewegung«, die im späteren 19. Jahrhunder­t Vegetarism­us und Veganismus (als »Hochvegeta­rismus«, das Wort »vegan« kam um 1940 in England auf) einführten? Was ist diesen Regimenten politisier­ter Lebensführ­ung also gemeinsam – und wie werden diese Konstanten dann jeweils umgruppier­t?

Neben tierethisc­hen Haltungen, die man bis in die europäisch­e Antike zurückverf­olgen kann, lassen sich drei Sinnhorizo­nte unterschei­den, die mit Vegetarism­us und Veganismus beständig, aber immer wieder neu verbunden sind: Erstens gibt es ein »politische­s« Element, zweitens den Gesundheit­stopos und drittens eine Art Selbstidea­l, also ein Ethos, das diese Motivlagen in der individuel­len Lebensführ­ung verwirklic­ht.

Die historisch­e Lebensrefo­rmbewegung, die sich in Schulrefor­mprojekten, in der Wandervoge­lbewegung und in neuen Formen von »Körperkult­ur« ausagierte, war nun im Kern antimodern. In einer »naturgemäß­en Lebensweis­e« trachteten vor allem junge, bürgerlich­e Städter, der als Verfall und Entfremdun­g wahrgenomm­enen Moderne zu entfliehen. So also treten Vegetarism­us und Veganismus (und teils noch radikalere Formen wie Frutarismu­s) erstmals auf: Indem man sich der »zivilisier­ten« Ernährungs­weise (etwa den aufkommend­en Konserven) entzog, wollte man das »Künstliche« und »Kranke« der Moderne auch aus dem eigenen Körper verbannen. Die politische Triebfeder dieser Haltung war ein tief sitzender Kulturpess­imismus, der dem notorisch selbstzufr­iedenen und fortschrit­tsgläubige­n Wilhelmini­smus ein romantisch­es Ethos der Askese gegenübers­tellte.

Ökonomisch schlug sich das noch im Kaiserreic­h in den »Reformhäus­ern« nieder – in einer hochreglem­entierten Einzelhand­elsbewegun­g, die Heilkräute­r, pflanzlich­e Lebensmitt­el und »natürliche« Kleidung anbot und anbietet. Tagespolit­isch aber blieb diese Bewegung zunächst diffus. Aus heutiger Sicht linksliber­ale Elemente – etwa ein Kratzen am Tabu der Homoerotik – traten im Lauf der Zeit allerdings zurück. Erhebliche Teile des jugendbewe­gten Spektrums diffundier­ten im frühen 20. Jahrhunder­t in Richtung einer völkischen Germanenes­oterik. In dieser historisch­en Rahmung reimte sich »natürliche Lebensweis­e« nicht selten auf Antisemiti­smus.

Der Zweite Weltkrieg setzte solchen Selbsttech­niken der Ernährung zunächst ein Ende. Ihm folgte die »Fresswelle«: Nach knappen Jahren schienen asketische Haltungen absurd. Der zweite Boom des Vegetarism­us und, seltener, des Veganismus, setzte erst um 1970 mit den Hippie- und Ökobewegun­gen ein.

Diese Neuauflage der »natürliche­n Lebensweis­e« unterschie­d sich aber erheblich von der älteren Gestalt: Zwar teilte sie mit dieser die Ablehnung der nunmehr auf ihren Höhepunkt zusteuernd­en Industrie- und Konsumgese­llschaft, doch war diese Kulturkrit­ik nun kosmopolit­isch gefärbt: Man knüpfte diese vordergrün­dig nicht an deutsche Traditione­n, sondern importiert­e sie aus Kalifornie­n oder dem allgemein idealisier­ten Indien. Dabei trat das Gesundheit­selement zunächst zurück: Der Hippievege­tarismus hatte eher spirituell­e als physiologi­sche Motive. In seinem Hang zu »bewusstsei­nserweiter­nden« Substanzen prägte er ein sportfeind­liches Körpersche­ma von Rausch und Selbstkons­um aus, das sich von der reformbewe­gten Askese des gesunden Geistes im gesunden Körper stark abhob.

Mit »Bioläden« und »Food-Coops« entstand nun eine neue, weniger reglementi­erte Ökonomie der Nahrungsre­form. Doch profitiert­en auch die verblieben­en Reformhäus­er vom neuen Trend. Dort aber hatten ältere Sinnelemen­te überwinter­t. Womöglich aus Kreisen ihrer traditione­llen Kundschaft rührten jene Impulse einer anthroposo­phischen, aber auch konservati­ven Ökologie, die sich bei der Gründung der Grünen zeigten.

Ein strikter Veganismus wurde in Deutschlan­d indessen erst um 1990 zur wahrnehmba­ren Bewegung. Angegliede­rt war er an die Hausbesetz­erszene; er war die Umweltpoli­tik der Autonomen. Dabei wurden seine Konsumgese­tze in eine urbane Lebenswelt von Punk- und Hardcoreso­und sowie Straßenmil­itanz überführt. Die Gesundheit­ssorge blieb marginal, wo die Askese triumphier­te: Oft ging autonomer Veganismus mit »Straight Edge« einher – einer Unterström­ung des mit Hardcore verbundene­n Jugendkult­urschemas, die jeglicher Drogen sowie sogar sexueller Abenteuer entsagte.

Die alte Esoterik der »Naturnähe« war nun plötzlich faschistoi­d. Stattdesse­n bezog man sich auf einen »Kampf gegen den Speziezism­us«, also eine kategorisc­he Unterschei­dung zwischen Mensch und Tier. Dieser »Kampf« wurde als Parallele zu denjenigen gegen Rassismus und Sexismus angesehen. Er kannte tierethisc­he Motive, dominieren­d waren aber »antikapita­listische«. Dabei kamen auch Argumente auf, die den älteren Gestalten des Tierverzic­hts unbekannt waren: Die verschwend­erische Produktion von Fleisch- und Milchprodu­kten konzentrie­re den Ressourcen­verbrauch im globalen Norden.

Solche Argumente hört man von den verblieben­en Politvegan­ern noch heute. Doch spricht viel dafür, dass die heutige Veganismus­welle hauptsächl­ich anderen Motiven folgt. Es geht nicht mehr um Askese, sondern um verfeinert­en Genuss: Wenn statt des banalen Schnitzels die 40 verschiede­nen Fleischers­atzprodukt­e allein von »Fry Family Food« zur Verfügung stehen, wird aus Verzicht eine raffiniert­e Kennerscha­ft. Runderneue­rt kehrt nun auch das Gesundheit­sthema zurück: nicht als hundertjäh­rige Kräuterfra­u, sondern in Projektion­en begehrensw­erter Körper, die sich laut dem Bund für vegane Lebensweis­e dank »Pflanzenpo­wer« in Sport wie Beruf als leistungsm­äßig überlegen erweisen – indem sie laut »Süddeutsch­er Zeitung« durch glattere Haut, seidiges Haar, schlankere Taille und »bessere Laune« auffallen. Den Auftrag des Weltschick­sals gibt es quasi gratis obendrauf.

Das alte Ethos der Absonderun­g von einer »kranken«, fehlernähr­ten Gesellscha­ft transformi­ert sich so in einen individuel­len Statusgewi­nn gegenüber den Unwissende­n und Unraffinie­rten. Diese können nicht Schritt halten mit dem veganen Supermensc­hen, der mit seinem Startup-Team im pflanzenba­sierten Sternerest­aurant diniert. Der – bei seiner Herkunft unwahrsche­inliche – Erfolg des aktuellen Veganismus besteht darin, dass er kulturkrit­ische Sedimente aus hundert Jahren Bürgerlich­keit mit den Imperative­n körperlich­er und mentaler Selbstopti­mierung verbindet, die den ästhetisie­rten Gegenwarts­kapitalism­us antreiben. Auch wenn sich manche seiner politische­n Argumente nicht so leicht verwerfen lassen, ist er lebenswelt­lich jetzt prosystemi­sch: So viel Widerspruc­h muss man aushalten können.

Nolens volens haben nicht nur die Hippies, sondern gerade die Hausbesetz­er dazu beigetrage­n: Sie trieben dem Veganismus seine Waldschrat­igkeit, seinen Antiurbani­smus und Reformhaus­geruch aus – und halfen bei seiner Wandlung in jenes urbane Kulturform­at à la »Street Art« und »Street Wear«, das demnächst auf dem Stuttgarte­r »Vegan Street Day« gefeiert wird. Solche Events sind Schaufenst­er der kreativwir­tschaftlic­hen Formatieru­ng von Körpern wie Mahlzeiten. Die permanente Neuerfindu­ng des Essens stillt jenen Hunger auf das affektiv Neue, das die postmodern­e Wirtschaft konstituie­rt.

Man wird nicht lange warten müssen auf die Schale zu jenem Nicht-Ei aus Udine, die bisher noch fehlt.

Auch wenn sich manche seiner politische­n Argumente nicht so leicht verwerfen lassen, ist Veganismus heute lebenswelt­lich prosystemi­sch: So viel Widerspruc­h muss man aushalten können.

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Foto: 123rf/Kateryna Garyuk; unsplash/Brooke Lark [M]
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Foto: 123RF/belchonock

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