Giftcocktails mit unerforschter Wirkung
Landwirtschaftsexperte André Leu über Glyphosat, Konzerneinfluss auf Behörden und kritische Wissenschaft
Was hat Siemotiviert, ein Buchüber die dramatischen Folgen des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaften und über Alternativen zu verfassen?
Immer wieder ist zu hören, dass von konventionellen Agrarprodukten keine Gefahr ausgeht, dass die Rückstände von Pestiziden unbedenklich seien. Das wollte ich überprüfen und habe dabei festgestellt, dass dies ein Mythos ist: Es gibt keine Studien, die die Unbedenklichkeit belegen können. Das Gegenteil ist der Fall: Hunderte Studien belegen, dass selbst Kleinstmengen von Pestiziden verheerende Folgen haben können – gerade bei Neugeborenen und Kindern.
Was haben Sie beim Studium der Studien herausgefunden?
Zum Beispiel, dass bereits kleine Mengen von Glyphosat unsere Nervenzellen schädigen können, dass in der Nabelschnur eines Neugeborenen in den USA 232 verschiedene Chemikalien nachgewiesen wurden, dass sich Pestizide im menschlichen Körper anreichern. Es ist ein Mythos, dass sie sich schnell zersetzen. Pestizide werden in der Realität als wahre Giftcocktails auf den Feldern ausgebracht, aber es gibt keinerlei Studien über deren Wirkung – wir spielen mit unserer Zukunft.
Funktionieren unsere Überwachungs- und Kontrollbehörden nicht, die doch eigentlich die Aufgabe haben, uns Konsument*innen zu schützen?
Das habe ich mich auch gefragt, schließlich liegen Hunderte Studien vor, die vor den Risiken warnen. Aber unsere Kontrollbehörden schützen nicht die Konsument*innen, sondern die Chemiekonzerne. Warum? Weil die Unternehmen kritische wissenschaftliche Studien systematisch in Frage stellen, sich auf ihre eigenen, oft nicht öffentlichen Studien berufen und die Kontrollinstitutionen unter Druck setzen. So hat sich ein intransparenter Prozess entwickelt, in dem der Einfluss der Konzerne auf die Behörden gestiegen ist und wo Gutachten im Auftrag von Konzernen zum goldenen Standard erhoben wurden.
Wie lässt sich das ändern?
Wir brauchen ein vollkommen offenes, transparentes System. Als Konsumenten haben wir das Recht zu wissen, welche Studien herangezogen wurden, um dieses oder jenes Pestizid freizugeben. Eine entscheidende Frage ist natürlich auch, weshalb die Studien im Auftrag der Konzerne unter Verschluss gehalten werden. Es kursieren Belege, Dokumente und auch Dokumentarfilme aus Argentinien über den Einsatz von Glyphosat in der Sojabohnenproduktion, aber auch über das Sprühen von Pestiziden aus der Luft in Costa Rica, wo weltweit pro Hektar die meisten Pestizide ausgebracht werden. Warum führen die Tatsachen, dass Kinder mit Deformationen auf die Welt kommen, dass das Trinkwasser vergiftet ist, nicht zu einem Umdenken?
Gute Frage. Verantwortlich sind die Kontrollbehörden, die darauf beharren, dass diese Produkte unbedenklich sind. Doch genau das lässt sich schlicht nicht nachweisen. Deshalb
André Leu (64) hat gerade sein vielbeachtetes Buch über die »Pestizidlüge« veröffentlicht. Der langjährige Präsident von IFOAM, der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen, leitet heute den Verein Regeneration International und lebt in Australien, wo er rund 100 verschiedene tropische Früchte auf seinem Bio-Hof anbaut. Mit ihm sprach Knut Henkel. plädiere ich für mehr Transparenz und unabhängige Wissenschaftler, die die Produkte unter die Lupe nehmen, anstelle der Gutachter, die von den Konzernen bezahlt werden und bei den Entscheidungen mit am Tisch sitzen. Das sind unhaltbare Zustände und handfeste Interessenskonflikte. Zudem sollten die Entscheidungen der Kontrollinstanzen gemeinsam mit den zugrunde liegenden Studien publiziert werden.
Sie weisen in Ihrem Buch »Die Pestizidlüge« explizit darauf hin, dass in der Landwirtschaft längst ein Cocktail von Pestiziden Anwendung findet – es wird also nicht auf einzelne Wirkstoffe gesetzt, sondern auf mehrere, die dann in unserer Nahrung landen. Sind sich die Verantwortlichen eigentlich nicht über die additive Wirkung im Klaren? Theoretisch vielleicht, praktisch aber nicht. Dabei verdichten sich längst die Anzeichen, dass solche Cocktails synergetisch wirken, das heißt, dass das Zusammenwirken der Stoffe deutlich giftiger sein kann als die Summe der Einzelkomponenten – dreimal so stark oder auch hundert- oder tausendmal. Es gibt bisher aber nur Indizien und keine Studien, das ist ein großes Defizit.
Was raten Sie einer jungen Mutter – wie soll sie ihr Kind ernähren?
Ich rate natürlich zu Lebensmitteln, die auf Bio-Farmen produziert wurden. Die kosten zwar eventuell etwas mehr, aber ihre Kinder werden es ihr danken.
André Leu: Die Pestizidlüge – Wie die Industrie die Gesundheit unserer Kinder aufs Spiel setzt, oekom verlag München, 2018, 240 Seiten, 20 €.