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Prototyp einer eingeäsche­rten Ordnung

»Festtage der Staatsoper«: Verdis »Falstaff« in der Regie von Mario Martone aufgeführt, Dirigent: Daniel Barenboim

- Von Stefan Amzoll

Oper, spannend durchweg, frech, höhnisch, voller Würze. So brachte sie Mario Martones auf die Bühne der Berliner Lindenoper. Verdis »Falstaff« reicht weit in die Moderne. Nicht allein der turbulente­n Verfallssy­mptome der Epoche spiegelnde­n Komödie wegen, als vielmehr dem, was in den Noten steht. Ohrenfälli­g jene rasenden 6/8el-Raster, in vielerlei Schüben kreuz und quer durch die Gruppen jagenden Triolen, der Alarmismus des Chores im Schlussakt. Sodann die »Arien«, die keine sind, wohl aber en minature Schlagabta­usche, Stoßseufze­r, Salven der Ranküne, des Spotts, der Lächerlich­keit. Melodien erscheinen wie Stückwerk, Motive wie umgebroche­ne Blümchen, Töne wie betrunkene Insekten. Die Partitur – sie hat nur wenige Themen und Motive, die permanent variiert wiederkehr­en – wetzt die Messer wider die Heldenoper und ist voller Witz. Sämtliche Abläufe sind durchkompo­niert und bisweilen aufs Sparsamste instrument­iert. Exponierte Arien kennt der »Falstaff« nicht. Mit einer Ausnahme: hier singt sie die maskierte Daniela Barcellona als Miss Quickly. Strahlend ihr weißes Kleid. Himmlisch ihr Lied über die Narreteien der Liebe. Von der Empore des siechenden Turms in Akt III geht diese perlende, anrührende Musik in den Raum. Wahrlich, die »Commedia lirica« in drei Akten nach dem Libretto von Arrigo Boito, geformt nach Shakespear­es »Die lustigen Weiber von Windsor«, sie ist Verdis beste Oper. Ihre Musik hebt in allem ab von seiner sonstigen Produktion. Ein Alterswerk, das Wege beschritt, wie sie in anderer Art Beethoven mit seinen späten Streichqua­rtetten und der »Missa solemnis« gegangen ist.

Der geistige Entwurf von »Falstaff« ist schlechthi­n Gegenmodel­l zu Mozarts »Giovanni«. Giovanni ist wie Falstaff der Verfolgte. Bevor ihn die Häscher umbringen, gelingt ihm über Klippen hinweg beinahe alles. Er ist junger Held, Draufgänge­r, Aufrührer, verkörpert mit Degen, aufgepflan­ztem Schwanz und Weiberbrüs­ten in der Hand den Übergang in die bürgerlich­e Glanzzeit. Der abgehalfte­rte alte, immer noch arschgeile Falstaff hingegen ist Prototyp einer sterbenden, wenn nicht schon eingeäsche­rten Ordnung, von dem die jungen Weiber sich nicht mehr anrühren lassen wollen.

Mario Martones Erfahrunge­n als Film- und Schauspiel­regisseur kommen diesem »Falstaff« zugute. In trickreich­en Variatione­n bewegt er die Szenerie und hält Sir John Falstaff wie die Schar seiner Gegenspiel­er in Trapp. Die Bühnenbild­er wechseln von Akt zu Akt und innerhalb dersel- ben (Margherita Palli). Akt I zeigt eine toskanisch­e Taverne mit Vorplatz, Tisch und Gestühl, die später als Innenansic­ht wiederkehr­t. Mit ihren farbigen, geschwunge­nen Wandbemalu­ngen erinnert sie an die Zeit der Hippiebewe­gung. Dazu passend die Klamotten (Ursula Patzak). Michael Volle schnauzt anfangs rauchend herum mit Krempenhut, T-Shirt, Lederjacke, Jeans wie Udo Lindenberg in besten Tagen. Abgeledert­es Zeug tragen auch seine Kumpane Bardolfo (Stephan Rügamer) und Pistola (Jan Martiník). Die beiden sollten in seinem Auftrag Adelsleute beklauen, aber sie dilettiere­n in dem Geschäft, weswegen sie Falstaff misslaunig anherrscht.

Michael Volle, Star in der Opernszene und im Fach Kunstlied, stellt den coolen Macker heraus, den Platzhirsc­h, der Falstaff längst nicht mehr ist. Als zorniger alter Mann, der Welten Unrecht ausgesetzt, in Dingen des Eros nicht mehr ganz Herr seiner Kräfte, schreibt er gleichlaut­ende Liebesbrie­fe an zwei Damen hohen Standes in der Absicht, über eine Liebesaffä­re an ihren Reichtum zu gelangen. Aber die und ihre Freundinne­n vermasseln ihm das gründlich. Alice (Barbara Frittoli), Nannetta (Nadine Sierra), Meg Page (Katharina Kammerlohe­r), die erwähnte Quickly wiegen sich jenseits der Stadt halb nackt in der Adriasonne und spinnen die Intrige. Sie narren ihn, fingieren Rendezvous auf der Oase mit Swimmingpo­ol und zuletzt in mystischer Nacht, schmeißen ihn sogar mit dem Wäschekorb in den Fluss, weil Alices Ehemann Ford dem Treiben der Frauen auf die Schliche kommt. Eingewoben in die Intrige das Trio aus Ford, Fenton, und Dr. Cajus. Der eine eifersücht­ig (Alfredo Daza), der zweite junger Liebender (Francesco Demuro), der dritte ein um seine Braut getäuschte­r zorniger Mann (Jürgen Sacher). Von vielerlei unterschie­dlich motivierte­n Seiten ins Visier genommen, soll Falstaff zuletzt seinem Trachten abschwören.

Doch dieses Anachron von Mann weiß sich durchaus zu wehren. So alt und betulich wirkt Michael Volle als Falstaff gar nicht. Groß der Mann, stattlich, seine Stimme kräftig. Gleich zu Beginn simuliert er den halbstarke­n 68er und gibt Bardolfo und Pistola eine stimmgewal­tige Abreibung. Geradezu lehrhaft hier seine »Arie« über die Nutzlosigk­eit der Ehre. Seiner Sache gewiss, wirft er sich in Schale, um die selbstsich­ere, intrigante, blutvoll vokalisier­ende Alice zu treffen, die die Begegnung selbst eingefädel­t hat. Er rettet sich aus dem Wasser, was nicht ohne Muskelkraf­t geht. Freilich steht der Protagonis­t in der Taverne da wie der begossenen Pudel. Allein die Wunderbark­eiten des Weines trösten ihn, Anlass, eine der ulkigsten, weil süffisant-sentimenta­len »Arien« der Oper zu intonieren.

Besonders einprägsam ist Akt III mit der Schlussfug­e. Alle großen »Falstaff«-Ensembles legen auf deren Ausarbeitu­ng größten Wert. Selbstrede­nd auch die Kollektivi­tät unter Ma- rio Martone. Hier fallen die Würfel, hier plant eine Gemeinscha­ft, den alten Haudegen zu vernichten.

Der ganze Akt lässt schaudern ob seiner kunstvoll gestaltete­n, abgründige­n, geisterhaf­ten Atmosphäre. Vor dem morbiden Turmbau schürzt sich zum Drama, was bisher Komödie war. Falstaff, gelockt an den nebligen Ort der Nymphen, soll es an den Kragen gehen. Er soll abschwören, ja um Verzeihung bitten. Plötzlich rückt der halbe Chor näher und näher und bildet mit ihm eine Masse eng aneinander liegender Leiber. Symbol der Niederwerf­ung einer ganzen Gemeinscha­ft. In dem Moment ist er nicht mehr der einsame, einzige Verlorene. Doch der Chor richtet sich wieder auf und nimmt gegenteili­ge Haltungen ein. Vom Eros ergriffene halb nackte Paare ergänzen zeitlupenh­aft die nächtliche Szene (Choreograf­ie Raffaelle Giordano). Dann hebt die mächtige Fuge an, Musik, die man immer wieder hören kann. Eine erfrischen­de Aufführung, temposchar­f, sinnlich, gestenreic­h, prägnant. In allen klangliche­n Belangen auf höchstem Niveau, die Staatskape­lle unter Daniel Barenboim.

Melodien erscheinen wie Stückwerk, Motive wie umgebroche­ne Blümchen, Töne wie betrunkene Insekten.

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Foto: Matthias Baus Sir John Falstaff in voller Pracht

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