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Überforder­te Kältehilfe

Kirchen fordern EU-rechtliche Lösungen zur Versorgung von obdachlose­n Menschen

- Von Marina Mai

1264 Übernachtu­ngsplätze – mehr gab es in der Kältehilfe noch nie. Wegen der anhaltend kalten Nächte hat der Senat die Saison bis Ende April verlängert. Viel ist es nicht, was die Neue Chance gGmbH ihren »Gästen« bieten kann, wie sie die Obdachlose­n nennt, die jede Nacht in ihren Räumen im Wedding übernachte­n. Es gibt ein warmes Abendessen, ein Bett in einem Sechsbettz­immer, Dusche, Toilette und Frühstück. Danach müssen die Männer und Frauen wieder in die Kälte. Der Verein bietet die Betten im Rahmen der Kältehilfe an. Die bleiben gleich bis zum nächsten Abend bezogen, denn es kommen immer dieselben Menschen, sagt Sozialarbe­iterin Nora Marwig. Ein Schlafgast hat gleich seine Mineralwas­serflasche neben dem Bett stehen gelassen und das Unterhemd zum Trocknen aufgehängt.

Mit 1264 Plätzen hat die Berliner Kältehilfe in diesem Winter so viele Notübernac­htungsplät­ze für Obdachlose geschaffen wie nie zuvor. Vor vier Jahren waren es nur 500. Diakonie-Direktorin Barbara Eschen ist den vielen ehrenamtli­chen Helfern dankbar, ohne die die Betreuung der Notübernac­htungen gar nicht zu stemmen wäre. Aber auch dem Berliner Senat, der die Gelder bereitgest­ellt hat. Kurzfristi­g kam sogar zusätzlich­es Geld, um die Angebote über den kalten April zu verlängern. Üblicherwe­ise endet die Kältehilfe im März. Barbara Eschen sagt: »Das Problem ist aber nicht das Geld. Wir finden keine Räume.« Das Problem zeigt sich auch bei der »Neuen Chance«: Der Verein, der ursprüngli­ch von der Diakonie gegründet worden war, muss am 1. April ausziehen. 37 Männer und Frauen werden dann wieder auf der Straße schlafen müssen.

Hinter jedem Obdachlose­n steht ein anderes Schicksal. Sozialarbe­iterin Nora Marwig erzählt von einem jungen Mann, der seinen Studentenj­ob verloren hatte, danach seine Wohnung. Hinzu kamen Schulden bei der Krankenkas­se, die fast zur Exmatrikul­ation geführt hätten. Ihm konnten die Sozialarbe­iter helfen. »Der Mann wohnt jetzt in einem Studentenw­ohnheim und hat mit unserer Hilfe wieder einen Job gefunden.«

So einfach ist das jedoch nicht immer. Wer seit Jahren auf der Straße lebt, ist häufig körperlich und psychisch schwer krank und auch nicht mehr in der Lage, die Hilfe anzunehmen, die ihm zustehen würde.

Wenig Hilfe steht hingegen jenen rund 70 Prozent der Berliner Obdachlose­n zu, die EU-Ausländer sind. »Unsere Obdachlose­n kommen aus Berlin und Saarbrücke­n, aus Nürnberg und Katowice, aus Bukarest und Thessaloni­ki«, sagt Eschen. Sie ist auch Sprecherin der Nationalen Armutskonf­erenz. Sie und ihre Kollegin Ulrike Kostka von der Caritas fordern bundes- und EU-rechtliche Lösung zur Versorgung von Obdachlose­n. »Auch mit Blick auf die Zahl der Kältetoten in diesem Winter in Osteuropa muss EU-weit die Versorgung verbessert werden. Wir appelliere­n an die Bundesregi­erung, mit Polen und anderen EU-Staaten über bessere Sozialstan­dards zu reden.« Es gelinge der Berliner Kältehilfe zwar ab und zu, Obdachlose­n zu helfen, zurück in ihr Herkunftsl­and zu gelangen, aber wenn sie dort sozial nicht aufgefange­n werden, sei das sinnlos.

In Deutschlan­d haben Obdachlose aus EU-Staaten oft keinen Anspruch auf eine Krankenver­sicherung. Krankenhäu­ser leisten zwar eine Notfallver­sorgung. Doch die christlich­en Sozialwerk­e haben die Erfahrung gemacht, dass nach der Entlassung aus dem Krankenhau­s pflegerisc­he Leistungen notwendig seien, für die niemand aufkommen will. »Damit ist die Kältehilfe aber überforder­t«, sagt Ulrike Kostka. Die Kältehilfe müsse daher mit Ehrenamtli­chen arbeiten. Und die Übernachtu­ngsgäste müssen tagsüber wieder auf die Straße. Allein 35 obdachlose Rollstuhlf­ahrer gebe es in Berlin. Ulrike Kostka: »Sie gehören nicht auf die Straße. Hier müssen die gesetzlich­en Möglichkei­ten ausgeschöp­ft werden, sie mit rollstuhlg­erechten Unterkünft­en und mit Pflegekräf­ten zu versorgen.« Die kirchliche­n Sozialträg­er lobten den Senat, dass er erste Pflegezimm­er für schwer kranke Obdachlose finanziere. »Das ist ein großer Schritt. Hier können die Menschen endlich ihre lange verschlepp­ten Krankheite­n auskuriere­n und zur Ruhe kommen«, sagt Kostka. Weitere solche Zimmer scheitern an fehlenden bezahlbare­n Räumen.

Lob gab es auch dafür, dass Senat und Bezirke bei der Obdachlose­nhilfe auf Initiative einer von Sozialsena­torin Elke Breitenbac­h (LINKE) einberufen­en Strategiek­onferenz nun an einem Strang ziehen.

Eine wichtige Aufgaben sei laut Diakonie-Direktorin Barbara Eschen mehr Sozialarbe­it, die Wege aus der Obdachlosi­gkeit aufzeige. Doch es müsse auch mehr bezahlbare Wohnungen in Berlin geben. Neben den 4000 bis 6000 Obdachlose­n sind in Berlin weitere rund 31 000 Menschen ohne eigene Wohnung in Wohnheimen, Hostels, Pensionen oder »bei Freunden auf der Couch« untergebra­cht.

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Foto: AFP/Tobias Schwarz Wildes Obdachlose­n-Camp in Tiergarten

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