nd.DerTag

Kita-Not: Ausgebucht bis 2020

- Sarah Liebigt über die Suche nach einem Betreuungs­platz

1, 3, 70, 150, 3000, 160 000: Diese Zahlen sind nicht Teil eines mathematis­chen Logikrätse­ls, sondern bestimmen so oder ähnlich den Alltag von hunderten, wenn nicht tausenden Berliner Eltern. Meine Zahlenreih­e beginnt mit einer zwölf: Auf so vielen Kitaplatz-Warteliste­n stand meine Tochter im August. Die Zahl schien absurd hoch. Meine Hebamme beruhigte mich im Frühsommer, ich würde einen Platz finden. »Am Ende finden alle einen.« Diesen Satz sollte ich den folgenden Monaten noch öfter hören.

Mittlerwei­le ist es März. Im Wohnzimmer ist es still, wir sitzen auf Sofa und Sessel und wischen auf unseren Handys herum. Neben mir liegt meine Tochter und hält ein Vormittags­schläfchen. Mein Freund guckt hoch, als ich ihm hektisch zuwinke, er solle doch bitte den Link angucken, den ich ihm gerade geschickt habe. In der Liste der Bildungsve­rwaltung für freie Plätze sind zwei Kitas aufgetauch­t. Der Adrenalinp­egel steigt, jetzt schnell anrufen. Das Gespräch dauert eine Minute und 20 Sekunden.

Meine Tochter ist elf Monate alt. In ein paar Wochen habe ich einen rechtliche­n Anspruch auf einen Kitaplatz. 3, 70, 150: Auf dem Küchentisc­h liegt seit Wochen eine Liste mit 150 Tagesstätt­en im Umkreis von drei Kilometern. So eine Liste kann man sich auf den Seiten der Senatsverw­altung herunter laden. Rund 70 dieser Kitas haben mein Freund und ich mittlerwei­le angerufen, angeschrie­ben, erneut angerufen. Die Telefonate dauern selten länger als eine Minute. Sätze wie »Wir sind ausgebucht bis 2020«, oder auch »Ihre Tochter ist erst ein Jahr alt? Vergessen Sie’s!« schaffen es in unsere Top Ten der tollsten Gespräche. Ohne Sarkasmus lässt sich das längst nicht mehr ertragen.

Die Kita, die ich an jenem Morgen so eilig anrufe, wartet mit einer ganz neuen Version des »Nein, kein Platz« auf: Die leicht genervte Dame am anderen Ende entschuldi­gt sich, ihre Kita stünde fälschlich­erweise in der Liste der freien Plätze.

Wir wohnen im Bezirk Pankow, im Dreiländer­eck von Weißensee, Pankow und Prenzlauer Berg. Die Kieze in dieser Gegend gehören berlinweit zu denen mit den geringsten freien Kapazitäte­n. Etwa 170 000 Plätze könnte Berlin anbieten, gäbe es denn genug Personal. So stehen von diesen genehmigte­n Plätzen nur rund 160 000 zur Verfügung. Noch mehr Zahlen, die auswendig weiß, wer sich wochen- und monatelang mit zunehmende­r Dringlichk­eit um einen Kitaplatz bemüht. Zuletzt berichtete der »Tagesspieg­el« Konkretere­s: Laut Senatsverw­altung stünden rund 8000 Kinder (bzw. noch uneingelös­te Kitagutsch­eine) etwa 5500 freien Plätzen gegenüber.

Betroffene Eltern gehen mit dieser Notlage unterschie­dlich um: Bekannte wollen selbst einen Kinderlade­n gründen. Ein Paar nutzt abwechseln­d seinen Jahresurla­ub, um die Wartezeit zu überbrücke­n. Und schließlic­h: vor Gericht ziehen. Zunächst lautete ein Urteil des V erwaltungs­gerichts sinngemäß: Was Berlin nicht liefern könne, darauf könne man auch keinen Anspruch erheben. Ein Entscheid nicht nach Gesetz, sondern Realität. Das Oberverwal­tungsgeric­ht folgte danach der Gesetzesla­ge und forderte das Land Berlin auf, Plätze bereit zustellen.

Andere Eltern fordern vom Jugendamt erfolgreic­h eine finanziell­e Unterstütz­ung – oder Entschädig­ung – dafür ein, dass sie ihr Kind selbst betreuen. Der Senat sagt dazu, die Kitas sollten doch bitte auch eine Überbelegu­ng in Kindertage­sstätten prüfen, bevor Eltern Geld ( einen Betreuungs aufwands ausgleich) vom Land bekommen. Auch Bildungsse­na tori nS an draSc heeres (SPD) wiederholt­e unlängst die »Notwendigk­eit« einer temporären Überbelegu­ng. Und wundert sich darüber, wenn die Diskussion um den Mangel an Kitaplätze­n emotional wird: Weil die Aussicht, zum Beispiel die Gruppenstä­rke der Einjährige­n bei selbem Personalsc­hüssel zu erhöhen, weder Eltern noch ErzieherIn­nen jubeln lässt.

Meine Tochter hat vielleicht einen Platz ab August, meine Elternzeit endet nach Pfingsten. Ich kann mich glücklich schätzen, teilzeit arbeiten zu »dürfen« (drei Monate nun, statt einen) und Eltern in der selben Stadt zu haben, die helfen, die Wartezeit zu überbrücke­n. Einen Glücksfall muss man wohl auch nennen, dass mein Partner als Krankenpfl­eger seinen Dienstplan anpassen kann. Mit einer akribisch geplanten Woche können wir die Betreuung unseres Kindes sicherstel­len. Und wie man weiß, halten sich Kinder immer gern an Pläne.

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Foto: Privat

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