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»Vorsicht bissig!«

Vor 50 Jahren starb der sowjetisch­e Physiker und Nobelpreis­träger Lew D. Landau.

- Von Martin Koch

Am 7. Januar 1962 waren in Moskau und Umgebung zahlreiche Straßen vereist. Dennoch bestand der sowjetisch­e Physiker Lew Dawidowits­ch Landau darauf, ins Kernforsch­ungszentru­m Dubna gefahren zu werden. Da die Fahrbereit­schaft seines Instituts ihm dafür jedoch keinen Dienstwage­n zur Verfügung stellte, überredete Landau einen Freund, ihn nach Dubna zu chauffiere­n. Auf der Straße dorthin geriet der Wagen ins Schleudern und stieß mit einem entgegenko­mmenden LKW zusammen. Landau wurde schwer verletzt: Sein Schädel und elf Knochen waren gebrochen. Er erlitt Gehirnquet­schungen, blutete aus den Ohren und konnte, da seine Lunge kollabiert war, kaum mehr atmen.

Die Nachricht verbreitet­e sich in Moskau rasch: Das »brillantes­te Gehirn der Sowjetunio­n« rang mit dem Tod. Ärzte öffneten im Krankenhau­s Landaus Schädel, um darin den Druck zu verringern. Spezielle Medikament­e zur Behandlung, die in Moskau nicht vorrätig waren, wurden eigens aus England und den USA eingefloge­n. Doch Landaus Zustand verschlech­terte sich. Sechsmal war er klinisch tot, sechsmal holten ihn seine Ärzte zurück ins Leben. Angeschlos­sen an mehrere Schläuche lag Landau wochenlang im Koma, und niemand konnte sagen, ob er je wieder aufwachen würde. Überall auf der Welt verfolgten Physiker das dramatisch­e Geschehen in Moskau, und so mancher dürfte sich an die Zeit erinnert haben, da Landau mit seinem scharfen Verstand selbst solche Koryphäen ihres Fachs wie Niels Bohr und Max Born in Erstaunen versetzt hatte.

Landau wurde am 22. Januar 1908 als Sohn eines Ingenieurs und einer Ärztin in Baku geboren. Schon mit 14 Jahren schrieb er sich an der dortigen Universitä­t ein, zwei Jahre später wechselte er an die physikalis­che Abteilung der Universitä­t Leningrad, Lew Landau 1968

wo er 1927 promoviert wurde. Landau war von der »unglaublic­hen Schönheit« der allgemeine­n Relativitä­tstheorie ebenso fasziniert wie von der neu entwickelt­en Quantenmec­hanik, die er zu »den größten Errungensc­haften des menschlich­en Geistes« zählte und über die er seine ersten Arbeiten verfasste. 1929 erhielt er ein Rockefelle­r-Stipendium und durfte in den Westen reisen. Er arbeitete bei Max Born in Göttingen, besuchte Werner Heisenberg in Leipzig und führte anregende Diskussion­en mit Niels Bohr in Kopenhagen, den er fortan als seinen Mentor betrachtet­e. In Cambridge traf Landau den einflussre­ichen sowjetisch­en Physiker Pjotr L. Kapitza, der für sein späteres Leben von schicksalh­after Bedeutung sein sollte.

1931 kehrte Landau in die Sowjetunio­n zurück und arbeitete am Physikalis­ch-Technische­n Institut der Universitä­t Charkow. Hier begann er seine bahnbreche­nden Forschunge­n zu Phasenüber­gängen zweiter Ordnung, bei denen (anders etwa als beim Gefrieren von Wasser) keine latente Wärme auftritt. Der Übergang eines Festkörper­s von der ferro- in die paramagnet­ische Phase ist ebenso ein von Landau untersucht­er Phasen- übergang zweiter Ordnung wie der Übergang eines Metalls vom normalleit­enden in den supraleite­nden Zustand.

Noch im Westen hatte Landau beim Versuch, das Problem des radioaktiv­en Betazerfal­ls zu lösen, an der Gültigkeit des Energieerh­altungssat­zes gezweifelt. Und obwohl er diese Zweifel bald fallen ließ, wurde ihm nach seiner Rückkehr von einigen sowjetisch­en Autoren vorgeworfe­n, er beschädige mit seiner Arbeit die marxistisc­h-leninistis­che Philosophi­e. Auch das NKWD warf nun ein waches Auge auf den Physiker, über den zwei inhaftiert­e Kollegen 1937 aussagten, er sei der Kopf einer konterrevo­lutionären Organisati­on. Landau folgte daraufhin einem Ruf Kapitzas an das Akademie-Institut für physikalis­che Probleme in Moskau und übernahm dort die Abteilung für theoretisc­he Physik. Obwohl er als Mensch meist zuvorkomme­nd war, duldete Landau als Wissenscha­ftler keinerlei Nachlässig­keiten. In seinem Arbeitszim­mer hing ein Schild, auf dem stand: »Vorsicht bissig!«

Im April 1938 wurde Landau verhaftet und in die Lubjanka gebracht. Im Gegensatz zu vielen anderen Wissenscha­ftlern, die dem Stalinsche­n Terror zum Opfer fielen, wusste Landau, warum er einsaß: Er hatte beabsichti­gt, mit zwei Freunden am 1. Mai 1938 in Moskau heimlich ein Flugblatt zu verteilen. Es enthielt Sätze wie diese: »Genossen! Das große Ziel der Oktoberrev­olution wurde schmählich verraten. Die Wirtschaft verfällt, Hungersnot droht. Das Land ist in Strömen von Blut und Unrat versunken ... Seht ihr denn nicht, dass die Stalin-Clique einen faschistis­chen Putsch vollbracht hat! Sozialismu­s gibt es nur noch auf den Seiten der Zeitungen, die sich heillos in Lügen verstrickt haben.«

Dass Landau daraufhin nicht erschossen wurde, glich einem Wunder. Wie man heute annimmt, war es Kapitza, der dieses Wunder bewirk- te. Kurz entschloss­en schrieb er einen Brief an Wjatschesl­aw Molotow, in dem er Landau als begnadeten Forscher schilderte, dessen Tod ein großer Verlust für die Sowjetunio­n wäre. Außerdem versprach Kapitza, fortan gut auf Landau aufzupasse­n, der im Mai 1939 aus dem Gefängnis entlassen wurde – und sich auf seine Weise bedankte. Mit Hilfe der Quantenthe­orie erklärte er ein Phänomen, das Kapitza erstmals 1937 im Experiment beobachtet hatte: Bei extrem tiefen Temperatur­en geht flüssiges Helium in den Zustand der Suprafluid­ität über. Das heißt, es verliert seine viskosen Eigenschaf­ten und kann daher reibungsfr­ei durch engste Kapillaren strömen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Landau an der Konstrukti­on der sowjetisch­en Atom- und Wasserstof­fbombe beteiligt und wurde als »Held der sozialisti­schen Arbeit« ausgezeich­net. Aber nicht nur als Forscher leistete Landau Großes. Er war auch ein mitreißend­er Hochschull­ehrer, der ständig an der Qualität seiner Vorlesunge­n feilte. Gemeinsam mit seinem Kollegen Jewgeni M. Lifschitz verfasste er ein zehnbändig­es »Lehrbuch der theoretisc­hen Physik«, das bis heute zu den Standardwe­rken auf diesem Gebiet gehört und in zahllose Sprachen übersetzt wurde, ab 1957 auch ins Deutsche.

Drei Monate nach seinem schweren Unfall erwachte Landau aus dem Koma. Langsam kämpfte er sich ins Leben zurück, begann zu sprechen und schließlic­h wieder zu arbeiten. Und er wurde hoch geehrt: Für seine Theorie der Suprafluid­ität erhielt er 1962 den Nobelpreis für Physik, den er zu seinem Bedauern nicht selbst entgegenne­hmen konnte. Sechs Jahre blieben ihm danach noch vergönnt, die sein Freund und Kollege Lifschitz als »eine Geschichte verlängert­er Leiden und Schmerzen« beschrieb. Am 1. April 1968 starb Landau nach einer Operation in Moskau. Er wurde 60 Jahre alt.

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Foto: imago/ITAR-TASS

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