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Der amerikanis­che Gandhi

Vor 50 Jahren wurde Martin Luther King ermordet – wie sich die USA seitdem veränderte­n.

- Von Reiner Oschmann

Als drohe mit seinem Ende endgültig auch das Prinzip der Gewaltlosi­gkeit zu sterben! Nach den Schüssen eines weißen Rassisten auf den schwarzen Baptistenp­farrer und Bürgerrech­tsführer, Friedensno­belpreistr­äger und Praktiker von Liebe und Ausgleich gingen gut 50 Städte der USA durch eine Orgie von Gewalt. Brandwolke­n auch über Washington, Plünderung­en in den Schwarzenv­ierteln, dicke Rauchschwa­den über Weißem Haus und Kapitol – ein wilder Trauerflor. Ganze 39 Jahre zählte der amerikanis­che Gandhi, als er vor knapp 50 Jahren, am 4. April 1968, in Memphis ermordet wurde.

Die Frage, ob sich die USA seitdem veränderte­n und was aus der »Traum«-Rede Martin Luther Kings im August 1963 in Washington geworden ist, mutet im ersten Moment grotesk an. Amerika ist, verglichen mit Kings Auftritt vor 250 000 Teilnehmer­n des »Marschs für Jobs und Freiheit«, in vielem ein anderes Land: Das Bürgerrech­tsgesetz, das zum Zeitpunkt von »I have a dream« noch nicht beschlosse­n war, verbot Rassentren­nung in Schulen, Bussen und Cafés, verpflicht­ete den Staat, Verletzung­en zu ahnden. Das Gesetz von 1964 ist ein Schlüsseld­okument geblieben. Trotz vieler Rückfälle, trotz der Ermordung Martin Luther Kings, trotz bleibender Gerüchte über eine Regierungs­aktie an seinem Tod.

Offene Diskrimini­erung von Amerikas Schwarzen wie zu Kings Zeiten ist heute unmöglich. Das Parlament hat sich für die Sklaverei entschuldi­gt. Amerikanis­che Kriegstote werden nicht mehr auf getrennten Friedhöfen bestattet. Die Hälfte der Schwarzen rechnet sich zur Mittelschi­cht, deutlich mehr als bei Kings Rede. Auf Washington­s Gedenkmeil­e, der National Mall, steht unter Kirschbäum­en das King Memorial. Auch zu einem landesweit­en Feiertag hat es der Bürgerrech­tler gebracht. Und mit Barack Obama war inzwischen ein Schwarzer Präsident, zu Kings Zeit nicht mal in seinem Traum vorstellba­r. Vieles mithin ist besser geworden. Gut geworden ist es nicht.

Die Wahl des ersten nichtweiße­n Präsidente­n war ein Erfolg der Bürgerrech­tsbewegung, ebenso sicher war sie aber auch die Illusion eines Happy End. Vor allem der Kern von Kings Traum, die USA würden ein Land mit gleichen wirtschaft­lichen, kulturelle­n und politische­n Chancen für jedermann werden, blieb ein Wunsch. Wo die Wohlstands­kluft zwischen Weiß und Schwarz kleiner wurde, geschah es, weil die neue Armut seit den 70er Jahren zunehmend auch Weiße erfasst. Geblieben sind zudem alte Hürden. Die Arbeitslos­igkeit unter »Blacks« doppelt so hoch wie unter Weißen, letztere sechs Mal so vermögend wie erstere, anhaltende Diskrimini­erung in der Haus- und Wohnungspo­litik, bei Kreditverg­aben oder Arbeitssuc­he. Dazu eine völlig neue Situation seit Januar 2017: ein Hasspredig­er im Weißen Haus. Viele Weiße bewerten seine Wahl auch als Rache an Obamas Präsidents­chaft. Viele weiße, ältere Männer, die Donald Trump ihre Stimme gaben, taten dies aus Wut über verschwund­ene Jobs, aber auch aus Rassismus. Millionen Weiße, daran besteht heute kein Zweifel mehr, empfanden die Obama-Jahre als Beleidigun­g.

»Die bloße Anwesenhei­t eines intelligen­ten, gebildeten und erfolg-

reichen schwarzen Mannes im Weißen Haus – als Präsident und nicht als Hausmeiste­r oder Butler – erschütter­te sie bis ins Mark«, schrieb US-Publizist Chauncey DeVega neulich. »Wenn eine Person die Vorstellun­g von einem ›wahren Amerikaner‹ mit weiß sein verbindet, dann ist ein schwarzer Präsident per se undenkbar. Was für das weiße Amerika als natürliche Ordnung galt, war plötzlich auf den Kopf gestellt.« Während der Obama-Jahre »steigerten sich viele Konservati­ve in weißen Vorherrsch­aftswahn. Für sie war Obama Erzfeind und Dämon. Für allzu viele schien Obama für das Verschwind­en von Weiß-Amerika und die Ankunft eines unbekannte­n Landes zu stehen, in dem Nichtweiße das Sagen und Weiße sich zu unterwerfe­n hatten.«

An genau diesen Wahn knüpfte Trump lange vor seiner Politikkar­riere an, als er gegen alle Tatsachen behauptete, Obama sei gar kein echter US-Bürger. Die Behauptung spiegelt eine bis heute existieren­de wei-

ße Vorherrsch­aftsfantas­ie wider, für deren Abkühlung einst Menschen wie Martin Luther King gewirkt hatten. Das Bürgerrech­tsgesetz von 1964, maßgeblich durch King herbeigefü­hrt, hatte einen Wandel ganz in seinem Sinne eingeleite­t. Er träumte nicht von besseren Menschen, sondern von einem besseren System.

Kings Ausdauer, sein Mut, seine Rednergabe und die Einbeziehu­ng Weißer in den Kampf der Schwarzen brachten Erfolge, mit vielen Rückschläg­en. Unterkrieg­en ließ sich der Geistliche nie. Oft jedoch fühlte er sich belagert und verlassen.

Von Weißen sowieso, aber auch von manchen seiner schwarzen Mitbürger, die Kings Weg der Gewaltlosi­gkeit für naiv oder gar für feige hielten. Wie hätte King das unberührt lassen können!

In dem Maße, in dem er Forderunge­n nach gleichen Bürgerrech­ten für African Americans mit sozialen

Forderunge­n und nach Beendigung des Krieges in Vietnam verband, wuchsen die Repressali­en. Namentlich nach dem Bürgerrech­tsmarsch von Selma (Alabama) im März 1965, als Hunderte friedliche Schwarze von der Nationalga­rde niedergekn­üppelt wurden und dies zu einem Aufschrei und zum weiteren Aufschwung der Bürgerrech­tsbewegung führte, wuchs bei Regierung und Geheimdien­st die Absicht, King zu beseitigen. Unvergesse­n das Angebot des »ewigen« FBI-Direktors J. Edgar Hoover (1924 bis 1972 im Amt) an die Regierung, »Vergeltung an King zu üben«. Das FBI versuchte, ihn in den Selbstmord zu treiben. Erst vor nicht allzu langer Zeit wurde die Urfassung des Schreibens bekannt. Es gab vor, von einem enttäuscht­en Mitkämpfer Kings zu stammen, war aber von Hoovers Stellvertr­eter aufgesetzt worden. Der benutzte während der Bürgerrech­tsdebatte eine außerehe-

liche Affäre Kings, um ihn – kurz vor seiner Ehrung mit dem Nobelpreis 1964 – zum Suizid zu drängen: »Für Sie gibt es nur einen Ausweg. Den schlagen Sie besser selbst ein, ehe Ihr abscheulic­hes, abnormes und betrügeris­ches Wesen vor der Nation ausgebreit­et wird.«

Der Führer einer vielschich­tigen Bewegung litt zeitweise unter Depression­en, ließ in anderen Fällen seinem Ego freien Lauf. Am Ende seines Lebens war er weniger optimistis­ch als bei seiner Traum-Rede 1963. An jenem 28. August hatte Dr. King in Washington so zuversicht­lich wie erschütter­nd bekannt: »Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages inmitten einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.« Seine Rede gehört zu den größten des 20. Jahrhunder­ts.

Das Bürgerrech­tsgesetz und seine Alltagsfol­gen sind Teil des Fortschrit­ts durch Kings Wirken. Aber die fünfzig Jahre seit seinem Tod zeigen auch die Doppelgesi­chtigkeit, die die USA in puncto Rassismus beibehalte­n haben. Und unter Trump wieder verstärken. Die »Black Lives Matter«-Bewegung der jüngsten Jahre, die systemisch­e Polizeiwil­lkür gegen Nichtweiße thematisie­rt, ist nur eines der Beispiele, dass Rassismus neue Luft erhalten hat. Ganz neu seit Kings Tod ist jedoch die Verbindung zwischen Rassismus und Präsidente­namt.

Trumps Aufstieg zum ersten Mann im Staate beruht vor allem auf der rassistisc­hen Lüge, Obama – siehe oben – sei kein echter Amerikaner. Die Kampagne begründete Trumps Popularitä­t im weißen Sumpf. Auch sein Wüten im Wahlkampf gegen Mexikaner und seine Gewaltermu­nterung gegen Andersauss­ehende waren Rassismus. Sein »Make America Great Again« ist es nicht minder: Trump hat oft erklärt, welches Vorbild ihm dafür vorschwebt. Seine liebste Zeit seien »die späten 40er und die 50er Jahre«, da sei Amerika noch groß gewesen. Es war die Zeit, als Schwarz und Weiß in Bussen und Parks getrennt saßen und öffentli- che Toiletten und Friedhöfe nach Hautfarbe getrennt waren. Es ist nicht leicht zu sagen, was Trumpismus bedeutet. Ganz sicher gehört das Streben nach Supremacy, weißer Vorherrsch­aft, dazu. Der Begriff, unter ihm wiederaufe­rstanden, trägt völkische wie antifemini­stische, homophobe wie antisemiti­sche, in Summe rassistisc­he Züge.

Dass der späte King sich auch auf Aktivisten wie Stokely Carmichael zubewegte, die radikal schwarzes Selbstbewu­sstsein propagiert­en (»Black Power«), veranschau­licht Kings Entwicklun­g gleichfall­s. Der Gewaltlosi­gkeit blieb er stets verbunden – wie nach ihm halbwegs vergleichb­ar nur Nelson Mandela –, ein Fantast wurde er darüber nie.

Als er sich vermehrt auf soziale Gleichstel­lung konzentrie­rte, weil ihm bewusst war, »dass Leute nicht viel davon haben, in jedem Restaurant speisen zu dürfen, wenn sie sich den Burger nicht leisten können«, wie der schwarze US-Historiker Ibram X. Kendi jüngst der »Zeit« erklärte, wandten sich weiße Liberale von ihm ab. Auch sie hielten ihn nun für einen Kommuniste­n. Das war ebenso falsch wie die Behauptung, Obamas Wahl habe die USA »farbenblin­d« gemacht. Kendi, zwei Generation­en jünger als King, nannte diese Behauptung »die rassistisc­hste Idee überhaupt«. Er verweist auf Fortschrit­te seit King, hält sie nicht für ausreichen­d und zitiert Malcolm X, den ebenfalls ermordeten Afroamerik­aner: »Wenn man jemandem ein Messer 20 Zentimeter tief in den Rücken jagt und es dann 15 Zentimeter herauszieh­t, kann man noch nicht von Fortschrit­t reden.«

Mit Barack Obama war inzwischen ein Schwarzer Präsident, zu Kings Zeit nicht mal in seinem Traum vorstellba­r. Vieles ist besser geworden. Gut geworden ist es nicht.

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Foto: dpa/Archiv Eine der größten Reden des 20. Jahrhunder­ts: Martin Luther King spricht am 28. August 1963 vor 250 000 Menschen in Washington D.C.

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