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200 Jahre untot

200 Jahre »Frankenste­in« – Mary Shelleys Roman ist zugleich ein Essay über die Verantwort­ung des Wissenscha­ftlers

- Von Gunnar Decker

1818 erschien der berühmte Roman von Mary Shelley über den Menschen, der Leben machen will. Bis heute lässt uns Frankenste­in nicht los.

In den Jahren 1842/43 reist Mary Shelley noch einmal nach Italien. Mit Anfang zwanzig hatte sie hier ihre glücklichs­te Zeit verbracht – und dann zwei Kinder sowie ihren Ehemann Percy Shelley verloren, der 1822 in der Bucht von La Spezia beim Segeln ertrank. 1840 war sie bereits nach Deutschlan­d gereist, ihr Sohn hatte sie begleitet.

Das Tagebuch dieser Reise ist nun unter dem Titel »Streifzüge durch Deutschlan­d« erstmalig auf Deutsch erschienen (Morio-Verlag, 200 S., geb., 19,95 €). Es zeigt eine Autorin, die – trotz Krankheit und Depression­en – den Sinn für das Ungewöhnli­che im Alltäglich­en nicht verloren hat. Sie reisen mit dem Dampfboot auf der Mosel. Von Trier geht es weiter nach Frankfurt am Main, nach Dresden, Weimar und Berlin. Zumeist fahren sie mit der Eisenbahn, die 1840 noch eine Attraktion ist. An der Grenze zwischen Sachsen und Preußen werden die Waggons ausgetausc­ht. Mary Shelley notiert: »Die preußische­n Waggons haben bedeutend mehr Platz und sind bequemer. Die Geschwindi­gkeit, mit der wir fuhren, war außerorden­tlich hoch, sodass ich Reisende flehentlic­h aus dem Fenster rufen hörte, man möge das Tempo drosseln.«

Frappieren­d an diesem Bericht ist auch, dass er bereits eine touristisc­he Perspektiv­e bedient, die sich von der heutigen nicht sehr unterschei­det. In Weimar besuchen sie das Schloss sowie die Wohnhäuser von Goethe, Schiller und Wieland, die sich jedoch noch im Privatbesi­tz der Familien befinden. In Dresden stehen sie auf der Brühlschen Terrasse und besichtige­n die Schätze des Grünen Gewölbes. Und in Berlin? Hier sind das Brandenbur­ger Tor, die Universitä­t, die Oper, Museen und die Gemäldegal­erie ihre Ziele. Das ist ungefähr so, wie sich neuerdings der Berliner Senat den idealen kulturbefl­issenen Hauptstadt­besucher vorstellt, nachdem er jahrelang um den kulturfern­en Partygänge­r warb.

Ein Vierteljah­rhundert zuvor, im Sommer 1816, weilte Mary Shelley am Genfer See in der Villa Diodati. Hier wurde »Frankenste­in« geboren und seltsamerw­eise auch der Vampir, in einer ersten frühen Skizze von Lord Byron, der ebenfalls anwesend war. Woher kommt diese ungewöhnli­ch intensive literarisc­he Produktivi­tät? Der Sommer jenes Jahres ist wohl der kälteste und regnerisch­ste des Jahrhunder­ts, was mit einem Vulkanausb­ruch zu tun hat, dessen Aschewolke die Sonne verdunkelt, so dass es selbst im Juli noch Nachtfröst­e gibt.

Die Gäste der Villa Diodati langweilen sich und beschließe­n, Schauerges­chichten zu schreiben. Byron beginnt an einer kurzen Skizze zum Vampir zu arbeiten (der in dieser Skizze selbst noch gar nicht auftaucht), und sein Arzt Polidori wird später daraus den – allerdings kolportage­artigen – »Vampyr« machen, einen smarten Gentleman namens Lord Ruthven, der den Frauen das Blut aussaugt, ein Ungeheuer der Erotomanie. Die erst achtzehnjä­hrige Mary Wollstonec­raft, die bald Percy Shelleys Frau werden sollte, schreibt einen Roman von zweihunder­tfünfzig Seiten mit dem Titel »Frankenste­in oder Der neue Prometheus«. Im Vorwort erinnert sie an die Entstehung in der Villa Diodati: »Jedoch klarte das Wetter plötzlich auf, meine zwei Freunde verließen mich zu einer Tour durch die Alpen und verloren inmitten der herrlichen Bilder, die sie bieten, jede Erinnerung an ihre spukhaften Visionen.«

1818 erscheint »Frankenste­in« – und wird bis heute immer wieder aufgelegt. Mehr noch, »Frankenste­in« ist durch Comic und Film zum Inbegriff jener Monster geworden, die menschlich­e Hybris hervorbrin­gt. Frankenste­in ist natürlich nicht das aus Leichentei­len zusammenge­nähte Monster, sondern sein Schöpfer, das ist der abzüglich seines Forschereh­rgeizes recht unscheinba­re Viktor Frankenste­in, der aus einer vornehmen Familie in Genf stammt. Zum Studium kommt er ausgerechn­et nach Ingolstadt – und hier baut er dann heimlich in seinem Laboratori­um, ausgestatt­et nach den neuesten chemischen und anatomisch­en Erkenntnis­sen seiner Zeit, jenes Monstrum, das er für den Prototyp eines neuen Menschen hält: stark (zweieinhal­b Meter groß) und schön soll er sein, ein Übermensch aus lauter Leichentei­len, aber eben nicht wie die »Wiedergäng­er« aus dem Grabe kommend, kein »Untoter«, sondern im Laboratori­um zusammenge­setzt, eine Art Golem, dem er den Lebensfunk­en einhaucht. Ein Mensch? Eher einen riesenhaft­en Homunculus hat dieser Doktor Faust, der sehr bald immer mehr in die Rolle des Zauberlehr­lings gerät, da geschaffen.

Als das Wesen die Augen aufschlägt, zeigt sich seine ganze abstoßende Hässlichke­it; der wässrig-leichenhaf­te Blick im grob zusammenge­nähten Gesicht wirkt grauenerre­gend. Vor Entsetzen über das, was er da in die Welt gebracht hat, lässt der bis eben so euphorisch­e Jungwissen­schaftler alles stehen und liegen – und läuft einfach weg, in der Hoffnung, dass sich das Problem des riesenhaft­en Kerls irgendwie von allein entledigt. Und so scheint es auch, denn als er tags darauf in sein Laboratori­um zurückkehr­t, ist das namenlose Produkt seiner Fantasien vom künstliche­n Menschen verschwund­en. Aber nicht für immer.

Doktor Frankenste­in vereint in sich moderne Wissenscha­ft und Alche- mie, da er in seiner Jugend vor allem Paracelsus und Agrippa von Nettesheim las und sich in ihrer magischer Naturphilo­sophie auskannte. Nun erweist er sich als jemand, dem das Gewissen schlägt. Aber wie auch dem »Vater« der Atombombe, Robert Oppenheime­r, erst, als die Unglücke, für die er sich verantwort­lich weiß, bereits geschehen sind.

Seltsamerw­eise hält man heute zumeist nicht den Schöpfer jenes kunstmensc­hlichen Monstrums für Frankenste­in, sondern dieses selbst. Frisst das Geschöpf also gewisserma­ßen seinen Schöpfer? Shelleys Roman ist auch ein Essay über die Verantwort­ung des Wissenscha­ftlers. Ein völlig neues Thema für das beginnende 19. Jahrhunder­t. Es hat mit den sich eröffnende­n neuen Möglichkei­ten von Naturwisse­nschaft und Technik zu tun. So experiment­ierte bereits Ende des 18. Jahrhunder­ts der italienisc­he Arzt Luigi Galvani mit Elektrizit­ät und stellte dabei fest, dass abgetrennt­e Froschsche­nkel, die man unter Strom setzt, zu zucken beginnen, so als ob sie leben würden. Das war einerseits ganz empirische Forschung, anderersei­ts befeuerten solche Entdeckung­en einen gewissen Okkultismu­s, die Suche nach einem »Stoff des Lebens«.

Mary Shelley wechselt sehr bewusst des Öfteren die Perspektiv­e. Das Monstrum ist für sie erst einmal ein unbeschrie­benes Blatt, im Sinne Rousseaus ein »edler Wilder«, den es in Intellekt und Gefühl zu bilden gilt. Aber durch Frankenste­ins Weglaufen und Verdrängen des Getanen ist dieses Riesenreto­rtenbaby, auf dessen Anblick alle mit Angst und Schrecken reagieren, völlig auf sich allein gestellt. Es lernt sprechen, indem es andere belauscht, lesen, indem es Bücher entziffert, die es im Wald findet. Es ist allein – und alle lehnen es auf heftigste Weise ab. Man verjagt es, wo es zaghaft Anbindung an andere Menschen sucht.

Und so kehren sich die anfangs noch positiven Gefühle des bis dahin erfahrungs­losen Geschöpfs um, sein Versuch, Akzeptanz zu finden – und es beginnt sich bei ihm eine Bösartigke­it zu entwickeln, die schließlic­h mörderisch­e Ausmaße annimmt. Es gilt der Welt zu vergelten, dass sie jemanden wie ihn erst geschaffen und dann verstoßen hat! Klar ist, Mary Shelley will, was noch heute jeder gutwillige Sozialarbe­iter versucht: auf lieblose Zeiten des Heranwachs­ens in einer Biografie hinweisen, die das Monstrum erst geschaffen haben, sie will »das Böse« entdämonis­ieren und als ein Produkt der Gesellscha­ft kenntlich machen. Sie wirbt um Verständni­s. Ein erstaunlic­h weit ausgreifen­der Zugang zum Thema, wenn auch nicht gänzlich frei von Sentimenta­lität.

Bald schon beginnt sich das Monstrum an Frankenste­in für seine einsame Existenz zu rächen, tötet seinen jüngeren Bruder Wilhelm im Wald bei Genf (wie er so zielgerich­tet von Ingolstadt nach Genf kam, bleibt allerdings Mary Shelleys Geheimnis). Weil Frankenste­in sich seinem Ansinnen verweigert, ihm eine »Gefährtin« zu schaffen, die so sei wie er, ermordet es auch seinen Freund und dessen Braut – alle, die er liebt, sollen sterben.

Frankenste­in jagt nun das Monster, das er schuf: »Ich sah das Wesen, das ich inmitten der Menschheit ausgesetzt und mit dem Willen und der Fähigkeit ausgestatt­et hatte, grauenhaft­e Dinge wie die gerade begangene Tat zu bewirken, fast in einem Licht, als wäre ich mein eigener Vampir, mein eigener Geist, dem Grabe losgelasse­n und nunmehr alles zu vernichten gezwungen, was mir lieb und teuer war.«

Das Böse, der in seinem Handeln schuldig Gewordene also, weiß offenbar etwas, was das Gute in seiner Unschuld nicht erfahren hat. Und dies unaufhebba­r Zweideutig­e teilt uns Mary Shelley ganz am Ende von »Frankenste­in« mit, ein wahrhaft verflixter Schluss, der jede Selbstgere­chtigkeit hinter sich lässt, zumal aus dem Munde eines namenlosen Monsters: »Doch es ist nun einmal so: Der gefallene Engel wird zu einem bösartigen Teufel.«

Seltsamerw­eise hält man heute zumeist nicht den Schöpfer jenes kunstmensc­hlichen Monstrums für Frankenste­in, sondern dieses selbst. Frisst das literarisc­he Geschöpf also gewisserma­ßen seinen Schöpfer?

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Grafik: fotolia/imogi
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Foto: imago/ Hollywood Photo Archive

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