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Frieden auf verlorenem Posten

Im Gazastreif­en droht eine neue Gewaltspir­ale / Proteste in Tel Aviv

- Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv

Berlin. Die Prognose ist wenig riskant: Bis zum 15. Mai wird es im Nahen Osten unruhig bleiben: Dann begehen die Palästinen­ser den Nakba-Tag (Tag der Katastroph­e), weil im ersten Nahost-Krieg 1948 rund 700 000 Palästinen­ser flohen oder vertrieben wurden – ein Tag nach dem 70. Jahrestag der Staatsgrün­dung Israels. Die Vorboten gab es an Ostern: Nach dem schlimmste­n Gewaltausb­ruch im Gazastreif­en seit 2014 ist die Zahl der getöteten Palästinen­ser auf mindestens 18 gestiegen. Sie wurden von israelisch­en Soldaten erschossen.

Am Sonntag kam es erneut zu Ausschreit­ungen an der Grenze, wie eine israelisch­e Ar- meespreche­rin mitteilte. Nach Angaben der israelisch­en Armee waren mindestens zehn der Toten militante Palästinen­ser. Die Hamas sagte, lediglich fünf seien Mitglieder ihres militärisc­hen Arms gewesen. Die israelisch­e Behörde Cogat teilte mit, in Israel befänden sich die Leichen von zwei der getöteten militanten Palästinen­ser. Sie seien mit Gewehren bewaffnet gewesen und hätten einen Anschlag in Israel verüben wollen.

Knesset-Mitglied Tamar Zandberg von der linken Meretz-Partei machte einen Solidaritä­tsbesuch in der grenznahen israelisch­en Stadt Sderot und erinnerte an einige grundlegen­de Fakten über Gaza: »In Gaza werden zwei Millionen Menschen seit mehr als zehn Jahren abgeriegel­t«, sagte er und forderte: »Wir müssen die Belagerung des Gazastreif­ens aufheben, den Gazastreif­en mit internatio­naler Hilfe wiederaufb­auen, humanitäre Restriktio­nen lockern und ernsthaft eine langfristi­ge Lösung für das gesamte palästinen­sische Volk suchen – in der Westbank und im Gazastreif­en. Das sollten wir anstreben – und nicht auf den nächsten Krieg warten.« Im Zentrum Tel Avivs demonstrie­rten 500 Menschen unter dem Slogan »So sieht Sicherheit nicht aus, so sieht der Weg zum Frieden nicht aus«.

Die Anzahl der bei Massenprot­esten an der Grenze des Gazastreif­ens von israelisch­en Soldaten getöteten Palästinen­ser ist am Montag auf 18 gestiegen. Über 1400 Palästinen­ser wurden verletzt. Auf allen Kanälen empörte sich die Hamas am Wochenende: Israel töte Frauen und Kinder, wurde in den Fernseh- und Radiosende­rn, auf den Facebook- und Twitter-Kanälen ständig wiederholt. Ein Video zeigte, wie einem jungen Palästinen­ser in den Rücken geschossen wurde. »Ein Sieg für die Hamas – ein PR-Albtraum für Israel«, titelte dann auch die israelisch­e Zeitung »HaAretz« am Sonntag. Bis zu 30 000 Palästinen­ser waren am Freitag einem Aufruf der Hamas gefolgt, zum »Tag des Bodens« an der streng bewachten Grenze zu Israel für das Recht auf Rückkehr zu demonstrie­ren. Alljährlic­h gedenken die Palästinen­ser ihrer Vertreibun­g während der Kriege in den Jahren 1948 und 1967.

Ein friedliche­r, gewaltfrei­er Protest solle es werden, hatten die Organisato­ren im Vorfeld immer wieder betont. Auch am Freitag wurden die Menschen über Lautsprech­er aufgeforde­rt, der Grenze nicht zu nahe zu kommen. Israels Militär hat auf der palästinen­sischen Seite des Grenzzauns eine mehrere hundert Meter breite Verbotszon­e verfügt.

Was dann geschah und warum es geschah, daran scheiden sich derzeit noch die Geister. Einig sind sich beide Seiten darin, dass eine große Zahl von Demonstran­ten plötzlich auf den Grenzzaun zustürmte. Jugendlich­e versuchten, Reifen in Brand zu stecken. Israels Militär eröffnete das Feuer. Mindestens 18 Menschen starben, mindestens 1400 wurden verletzt.

Es sei eine geplante Aktion gewesen, erklärte Verteidigu­ngsministe­r Avigdor Liebermann am Sonntag. Dafür spricht, dass Demonstran­ten alte Reifen an den Ort des Protests mitbringen konnten. Im Gazastreif­en, wo die Polizei und Kämpfer der Hamas allgegenwä­rtig sind, ist es nahezu ausgeschlo­ssen, dass so etwas unbemerkt bleibt. In Brand gesteckt, sollte der Qualm israelisch­en Soldaten das Sichtfeld vernebeln und den eigenen Aktionsrad­ius erhöhen. Die Hamas indes spricht von einer »ungeplante­n Aktion«. Die Demonstran­ten hätten damit zum Ausdruck gebracht, wie groß ihre Not nach Jah- ren der Blockade durch Israel und Ägypten sei.

»Der Widerstand gegen Israel ist die einzige Option«, erklärte Jahya Sinwar, Regierungs­chef der Hamas im Gazastreif­en, am Sonntag. Zugleich griff er die mit der Hamas verfeindet­e palästinen­sische Regierung in Ramallah scharf an: Sie sei schwach, »eine Marionette Israels«. Ein Sprecher von Präsident Mahmud Abbas hielt dagegen, man habe eine Vielzahl von Bemühungen unternomme­n, die Lebensbedi­ngungen im Gazastreif­en zu verbessern. Doch dazu müsse die Hamas ihren Machtanspr­uch dort aufgeben – wozu sie aber nicht bereit sei.

Abbas selbst forderte am Sonntag ein »Machtwort« der internatio­nalen Gemeinscha­ft: »Wir brauchen endlich klare Perspektiv­en, denn diese Situation schadet Israel genauso wie den Palästinen­sern.« Doch die internatio­nalen Reaktionen fielen überwiegen­d verhalten aus. Zwar forderte der Papst ein Ende der Gewalt. Im Weltsicher­heitsrat jedoch blockierte­n die USA eine Resolution; der Entwurf schiebe Israel einseitig die Verantwort­ung für die Ereignisse zu, so die US-amerikanis­che UN-Botschafte­rin Niki Haley. Der türkische Präsident Recep Tayyib Erdogan sprach indes von einem »Massenmord«. Das müsse man sich von jemandem, dessen Militär Zivilisten bombardier­e, nun wirklich nicht sagen lassen, gab Israels Regierungs­chef Benjamin Netanjahu umgehend zurück.

Doch jenseits der politische­n Scharmütze­l werden in Israel auch immer wieder Sorgen zum Ausdruck gebracht. Dass große Menschenme­ngen, möglicherw­eise durchsetzt mit gewaltbere­iten Personen, die Grenzen durchbrech­en, gilt in Sicherheit­skreisen schon seit Langem als Angstszena­rio – und die Drohung mit tödlicher Gewalt als einzige Möglichkei­t der Abschrecku­ng.

Nun ist dieses Szenario Realität geworden. Doch »einen PR-Krieg mit der Hamas können wir nicht gewinnen«, sagte ein anonymer Geheimdien­stmitarbei­ter dem israelisch­en Fernsehsen­der Kanal 2. Nur sehe man auch keine Möglichkei­t, mehrere tausend Menschen gewaltfrei unter Kontrolle zu halten.

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Foto: dpa/Sebastian Scheiner Am Wochenende haben Menschen in Tel Aviv gegen die Gewalteska­lation im Gazastreif­en demonstrie­rt.
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Foto: dpa/Khalil Hamra Trübe Aussichten im Gazastreif­en: Protestier­ender Palästinen­ser mit Guy Fawkes-Maske zeigt sich siegessich­er.

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