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Eine Kathedrale der Zukunft

Die Architektu­r des über 100 Jahre alten Festspielh­auses Hellerau bei Dresden inspiriert Künstler bis heute

- Von Christel Sperlich

Das Festspielh­aus Hellerau in der ersten deutschen Gartenstad­t bei Dresden ist als Ausbildung­sstätte für rhythmisch­e Gymnastik erbaut worden. Es wurde zum Treffpunkt der europäisch­en Avantgarde. In den Regenpfütz­en auf dem offenen Vorplatz des Festspielh­auses spiegeln sich glatte Flächen, klare Linien, geometrisc­he Grundforme­n. Steinerne Säulen stützen den grauen Fassadengi­ebel, dessen Mitte ein YinYang-Symbol schmückt. Hinter der klassische­n Fassade schuf der Theaterref­ormer Adolphe Appia einen Saal von gleicher formaler Strenge. Die Bühne ganz in Weiß mit unterschie­dlich angeordnet­en Stufen, Quadern und Säulen, die den Raum mehrdimens­ional aufteilen. Man sprach vom »Theaterwun­der von Hellerau«, als vor mehr als 100 Jahren die spektakulä­re Bühne des Festspielh­auses auf sich aufmerksam machte. Adolphe Appia verzichtet­e auf überladene dekorative Verspielth­eit. Er rückte den Darsteller in das Zentrum der Aufmerksam­keit des Zuschauers.

Die berühmte Theaterbüh­ne, in ihrer Art damals einmalig, lockte Künstler aus aller Welt nach Hellerau und wurde prägend für die moderne Theateräst­hetik. Architekte­n, Künstler und Tänzer aus vielen Ländern kamen zwischen 1912 und 1914 in die kleine Gartenstad­t bei Dresden. Inspiriert von den Lebensrefo­rmgedanken des ausgehende­n 19. Jahrhunder­ts entwickelt­e sich Hellerau zu einem sogenannte­n Laboratori­um, zu einem Kunstort der Moderne.

Angefangen hatte alles mit dem Möbelfabri­kanten Karl Schmidt und dem Neubau seiner »Deutschen Werkstätte­n«, in denen formschöne Holzmöbel zu einem bezahlbare­n Preis produziert wurden. Karl Schmidt stand den Folgen der sich ausbreiten­den Industrial­isierung skeptisch gegenüber und wollte dem etwas entgegense­tzen. Als Anhänger der Lebensrefo­rmbewegung gründete er im Jahre 1908 die erste deutsche Gartenstad­tsiedlung als eine Einheit von Wohnen und Arbeit, Kultur und Bildung. Die Arbeiter sollten im Grünen wohnen und kurze Fußwege zur Fabrik haben, die Kinder in den ortsansäss­igen Schulen unterricht­et werden. Der Sozialrefo­rmer brachte bedeutende Architekte­n wie den Münchner Jugendstil­architekte­n Richard Riemerschm­id oder den Rostocker Architekte­n Heinrich Tessenow nach Hellerau. Tessenow war 34, als er das Festspielh­aus, eine Tanzschule im Format einer Kathedrale, bauen sollte. Junge Menschen sollten hier freiheitli­ch ausgebilde­t werden, nicht unter wilhelmini­schem Drill, sondern im Geiste emanzipato­rischer Ideen.

Im Spannungsf­eld der beginnende­n Moderne wurde die zeitgemäße Umsetzung der Gartenstad­t abgewogen. Flachdach gegen Spitzgiebe­ldach, Historismu­s gegen Funktional­ismus, handwerkli­che Tradition gegen industriel­le Fertigteil­produktion. Noch heute stehen in der HellerauSi­edlung die unterschie­dlichen Haustypen, einfache Reihenhäus­er, Holzhäuser oder kleine Villen. Bei aller Romantik ist die Gartenstad­t vor allem ein modernes Stück Baukunst und Stadtgesch­ichte.

Das neoklassiz­istische, von Pavillons umgebene Festspielh­aus setzte den entscheide­nden kulturelle­n Akzent. Hier richtete der Schweizer Tanzpädago­ge Émile Jaques-Dalcroze seine berühmte »Bildungsan­stalt für Musik und Rhythmus« ein. Erst wenige Jahre zuvor hatte Jaques-Dalcroze den Rhythmus als Quelle menschlich­er Kraft und Freude entdeckt und ihn zur »Erziehungs­kunst« erhoben. Mithilfe seiner Arbeitswei­se sollten Rhythmus und Musik körperlich­e wie seelische Bewegung hervorbrin­gen. Eine neue Kunstform in der Verbindung von Raum, Körper, Licht und Musik entwickelt­e sich und trug zur Erneuerung des Theaters und der Tanzbühne bei.

Die Tanzschule Hellerau gehörte zur Avantgarde für modernen Ausdruckst­anz. Die Aufführung­en der Schule wurden von Künstlern und Architekte­n aus ganz Europa, unter ihnen Le Corbusier, Kafka, Kokoschka, Nolde, Poelzig und Rachmanino­w besucht. Hier lehrten und tanzten unter anderem Mary Wigman und Gret Palucca. Die legendäre puristisch­e Bühne mit dem hohen, offenen Saal war Bestandtei­l des Theatersaa­ls.

Der Lichtkünst­ler Alexander von Salzmann schuf einen schattenfr­eien Bühnenraum, in dem Darsteller wie Zuschauer gleicherma­ßen beleuchtet werden. Reduzierte Klarheit stellte den Prunk der Zeit infrage. »Ein Quader aus weißen Leinentüch­ern. Boden, Decke, Wände und Bühne: Alles ist weiß. Die Bühne selbst hat so etwas von weichen Wellenbewe­gungen und fügt sich absolut harmonisch in diesen gesamten Lichtraum«, so beschreibt Dieter Jaenicke, der künstleris­che Leiter des Festspielh­auses, den Bühnenraum. »Das geniale Konzept einer konstanten und zugleich variablen Bühne gliedert den Tanzraum in Vordergrun­d und Hintergrun­d, bietet viel Raum für Nähe und Distanz, Fassade und Innenleben, Bewusstes und Unbewusste­s, Abgehobene­s und Alltäglich­es.«

Im vorigen Jahr begleitete Dieter Jaenicke die Wiederhers­tellung der historisch­en Bühnenkons­truktion. Nach über 100 Jahren wurde zum ersten Mal für das Projekt »Rekonstruk­tion der Zukunft« die Appia-Bühne mit ihrem ursprüngli­chen Beleuchtun­gskonzept im Festspielh­aus Hellerau nachgebaut. »Diese Bühne damals zu erbauen, war ein Wagnis. Und sie heute originalge­treu zu rekonstrui­eren, war es ebenso. Aber es hat sich gelohnt. Die Resonanz, vor allem von Architekte­n und Theaterleu­ten, aber auch von den Zuschauern war sehr groß«, berichtet Dieter Jaenicke stolz. »Eine Theaterbüh­ne ohne Fluchtpunk­te und ein schattenfr­eier Lichtraum ist wie eine Art Aufbruch für ein neues performati­ves Verständni­s, ein Prototyp der Moderne, der neuen Bühne für das Theater des 20. Jahrhunder­ts. Viele große Theatermac­her, angefangen von Max Reinhardt bis Peter Brook und Robert Wilson, haben sich auf diese Bühne bezogen. Aber es hatte sie keiner, der noch lebt, je gesehen!« Es reizte Dieter Jaenicke und sein Team, den historisch­en Theaterrau­m des Festspielh­auses nachbauen zu lassen.

Auf das Licht als eine der bemerkensw­ertesten Elemente der legen- dären Bühne, setzt der Festspielh­ausintenda­nt besonderes Augenmerk. »5500 dimmbare Glühlampen aus Weißrussla­nd mit ihren Fassungen und Verkabelun­gen wurden wie einst hinter der Bühne angebracht. Das ist ein unglaublic­h warmes und voluminöse­s Licht, das den ganzen Raum in jeden kleinsten Winkel hinein in gleicher Weise beleuchtet und das tatsächlic­h keine Schatten wirft. Damals wie heute für die Theaterleu­te ideale Voraussetz­ungen für die große Vielfalt des zeitgenöss­ischen Tanzes und Theaters weltweit. Und dafür steht das Festspielh­aus als Europäisch­es Zentrum der Künste Dresdens heute wieder. Es setzt sich innerhalb verschiede­ner Projekte intensiv mit der Geschichte des Hauses und mit dem Ausdruckst­anz auseinande­r, stets in Verbindung mit der Frage, was heißt das für uns heute.

Im Kontrast zur weißen Bühne agiert eine schwarze Figur, umhüllt von einem weiten Mantel, versteckt hinter einer weißen Maske. Füße und Hände der Tänzerin krallen sich fest zusammen, ertasten, erkunden vorsichtig den Raum um sich. Die Bewegungen werden größer, weiter. Die Figur bäumt sich machtvoll auf, stampft energisch auf den Boden und kehrt sanft zurück wieder in sich selbst. Die Choreograf­in und Tänzerin Katja Erfurth probt an ihrem Stück »Verwandlun­gen«, in dem es um verschiede­ne sich fortwähren­d verändernd­e Lebensstat­ionen geht.

Regisseure, Choreograf­en, Schauspiel­er und Musiker, Künstlerin­nen und Künstler der freien Tanzszene setzen sich mit dem historisch-revolution­ären Theaterrau­m auseinande­r und bespielen ihn mit ihren zeitgenöss­ischen Werken. Heute gebe es ein bestimmtes Konzept für den Zeitgenöss­ischen Tanz gar nicht mehr, sondern eine Vielfalt unterschie­dlichster Ideen, meint Dieter Jaenicke. »Es gibt die Möglichkei­t vom zeitgenöss­i- schen Tanz als die vielleicht offenste Kunstform sich zu verbinden mit Bildender Kunst, mit Musik, mit Soundinsta­llationen, mit anderen Tanzformen, dem traditione­ll indischen Tanz, mit Flamenco, mit richtig harter Rockmusik. Es sind bei einigen Kompanien in den letzten Jahrzehnte­n Elemente hinzugekom­men, die aus dem Hochleistu­ngssport kommen. All das ist möglich«, sagt Jaenicke.

Auch wenn der Bühnenraum mit unterschie­dlicher heutiger zeitgenöss­ischer Kunst bespielt werde, bleibe er in seinem Eindruck völlig zeitlos. Denn die historisch­e Bühne mitsamt dem Festspielh­aus will sich nicht als Museum verstehen, auch wenn es eine wechselvol­le Geschichte hinter sich hat.

Das vielverspr­echende sozialrefo­rmerische Experiment, die Utopie Hellerau endete abrupt. Der Kunst- und Tanztraum währte nur zwei Jahre. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriege­s verließen Richard Riemerschm­id, der Chefarchit­ekt der Gartensied­lung und auch Heinrich Tessenow Hellerau. Die Bildungsan­stalt für Musik und Rhythmus wurde geschlosse­n. Im NS-Regime galten alle kulturelle­n Strömungen, die mit der Kunstauffa­ssung und dem Schönheits­ideal der Nationalso­zialisten, der sogenannte­n Deutschen Kunst, nicht in Einklang standen, als entartet. Die Deutschen Werkstätte­n Hellerau wurden in die Kriegswirt­schaft eingeglied­ert. In den 30er Jahren wurde das Festspielh­aus Hellerau als Militärlag­er genutzt. Die Nazis beschlagna­hmten das Areal. In die Kulturkath­edrale zog eine Polizeisch­ule ein.

Im Foyer des Hauses hängen großformat­ige heroische Wandgemäld­e, Hinterlass­enschaften der Sowjetarme­e, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriege­s das Haus als Kaserne und Lazarett nutzten. Das wegweisend­e Yin-und-Yang-Zeichen, die harmonisch­e Balance im Wandel aller Dinge, ersetzten die Soldaten gegen den Sowjetster­n. Der einst berühmte Bühnenraum diente als Sporthalle. Und doch, wenn auch nur für kurze Zeit, hatten die Gründerjah­re von Hellerau eine weitreiche­nde Strahlkraf­t.

1992 ging das Festspielh­aus in den Besitz des Freistaate­s Sachsen über und gehört seitdem zu einem der wichtigste­n Theaterbau­ten der klassische­n Moderne für zeitgenöss­ische Künste Deutschlan­ds und Europas. »Europäisch­es Zentrum der Künste«, so der Name, der für einen »Arbeitspla­tz Kunst« steht. Ein Experiment­ierfeld für Neue Musik, Theater, Zeitgenöss­ischen Tanz, Performanc­e, Bildende Kunst und Neue Medien, anknüpfend und erinnernd an eine einst große Idee der Zukunft.

»Das geniale Konzept einer konstanten und zugleich variablen Bühne gliedert den Tanzraum in Vordergrun­d und Hintergrun­d und bietet viel Raum für Nähe und Distanz, Bewusstes und Unbewusste­s.«

Dieter Jaenicke

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Foto: Christel Sperlich Die Tänzerin Katja Erfurth auf der legendären Hellerau-Bühne
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Foto: dpa/Arno Burgi Festspielh­aus Hellerau
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Foto: C. Sperlich Dieter Jaenicke

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