Eine Kathedrale der Zukunft
Die Architektur des über 100 Jahre alten Festspielhauses Hellerau bei Dresden inspiriert Künstler bis heute
Das Festspielhaus Hellerau in der ersten deutschen Gartenstadt bei Dresden ist als Ausbildungsstätte für rhythmische Gymnastik erbaut worden. Es wurde zum Treffpunkt der europäischen Avantgarde. In den Regenpfützen auf dem offenen Vorplatz des Festspielhauses spiegeln sich glatte Flächen, klare Linien, geometrische Grundformen. Steinerne Säulen stützen den grauen Fassadengiebel, dessen Mitte ein YinYang-Symbol schmückt. Hinter der klassischen Fassade schuf der Theaterreformer Adolphe Appia einen Saal von gleicher formaler Strenge. Die Bühne ganz in Weiß mit unterschiedlich angeordneten Stufen, Quadern und Säulen, die den Raum mehrdimensional aufteilen. Man sprach vom »Theaterwunder von Hellerau«, als vor mehr als 100 Jahren die spektakuläre Bühne des Festspielhauses auf sich aufmerksam machte. Adolphe Appia verzichtete auf überladene dekorative Verspieltheit. Er rückte den Darsteller in das Zentrum der Aufmerksamkeit des Zuschauers.
Die berühmte Theaterbühne, in ihrer Art damals einmalig, lockte Künstler aus aller Welt nach Hellerau und wurde prägend für die moderne Theaterästhetik. Architekten, Künstler und Tänzer aus vielen Ländern kamen zwischen 1912 und 1914 in die kleine Gartenstadt bei Dresden. Inspiriert von den Lebensreformgedanken des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelte sich Hellerau zu einem sogenannten Laboratorium, zu einem Kunstort der Moderne.
Angefangen hatte alles mit dem Möbelfabrikanten Karl Schmidt und dem Neubau seiner »Deutschen Werkstätten«, in denen formschöne Holzmöbel zu einem bezahlbaren Preis produziert wurden. Karl Schmidt stand den Folgen der sich ausbreitenden Industrialisierung skeptisch gegenüber und wollte dem etwas entgegensetzen. Als Anhänger der Lebensreformbewegung gründete er im Jahre 1908 die erste deutsche Gartenstadtsiedlung als eine Einheit von Wohnen und Arbeit, Kultur und Bildung. Die Arbeiter sollten im Grünen wohnen und kurze Fußwege zur Fabrik haben, die Kinder in den ortsansässigen Schulen unterrichtet werden. Der Sozialreformer brachte bedeutende Architekten wie den Münchner Jugendstilarchitekten Richard Riemerschmid oder den Rostocker Architekten Heinrich Tessenow nach Hellerau. Tessenow war 34, als er das Festspielhaus, eine Tanzschule im Format einer Kathedrale, bauen sollte. Junge Menschen sollten hier freiheitlich ausgebildet werden, nicht unter wilhelminischem Drill, sondern im Geiste emanzipatorischer Ideen.
Im Spannungsfeld der beginnenden Moderne wurde die zeitgemäße Umsetzung der Gartenstadt abgewogen. Flachdach gegen Spitzgiebeldach, Historismus gegen Funktionalismus, handwerkliche Tradition gegen industrielle Fertigteilproduktion. Noch heute stehen in der HellerauSiedlung die unterschiedlichen Haustypen, einfache Reihenhäuser, Holzhäuser oder kleine Villen. Bei aller Romantik ist die Gartenstadt vor allem ein modernes Stück Baukunst und Stadtgeschichte.
Das neoklassizistische, von Pavillons umgebene Festspielhaus setzte den entscheidenden kulturellen Akzent. Hier richtete der Schweizer Tanzpädagoge Émile Jaques-Dalcroze seine berühmte »Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus« ein. Erst wenige Jahre zuvor hatte Jaques-Dalcroze den Rhythmus als Quelle menschlicher Kraft und Freude entdeckt und ihn zur »Erziehungskunst« erhoben. Mithilfe seiner Arbeitsweise sollten Rhythmus und Musik körperliche wie seelische Bewegung hervorbringen. Eine neue Kunstform in der Verbindung von Raum, Körper, Licht und Musik entwickelte sich und trug zur Erneuerung des Theaters und der Tanzbühne bei.
Die Tanzschule Hellerau gehörte zur Avantgarde für modernen Ausdruckstanz. Die Aufführungen der Schule wurden von Künstlern und Architekten aus ganz Europa, unter ihnen Le Corbusier, Kafka, Kokoschka, Nolde, Poelzig und Rachmaninow besucht. Hier lehrten und tanzten unter anderem Mary Wigman und Gret Palucca. Die legendäre puristische Bühne mit dem hohen, offenen Saal war Bestandteil des Theatersaals.
Der Lichtkünstler Alexander von Salzmann schuf einen schattenfreien Bühnenraum, in dem Darsteller wie Zuschauer gleichermaßen beleuchtet werden. Reduzierte Klarheit stellte den Prunk der Zeit infrage. »Ein Quader aus weißen Leinentüchern. Boden, Decke, Wände und Bühne: Alles ist weiß. Die Bühne selbst hat so etwas von weichen Wellenbewegungen und fügt sich absolut harmonisch in diesen gesamten Lichtraum«, so beschreibt Dieter Jaenicke, der künstlerische Leiter des Festspielhauses, den Bühnenraum. »Das geniale Konzept einer konstanten und zugleich variablen Bühne gliedert den Tanzraum in Vordergrund und Hintergrund, bietet viel Raum für Nähe und Distanz, Fassade und Innenleben, Bewusstes und Unbewusstes, Abgehobenes und Alltägliches.«
Im vorigen Jahr begleitete Dieter Jaenicke die Wiederherstellung der historischen Bühnenkonstruktion. Nach über 100 Jahren wurde zum ersten Mal für das Projekt »Rekonstruktion der Zukunft« die Appia-Bühne mit ihrem ursprünglichen Beleuchtungskonzept im Festspielhaus Hellerau nachgebaut. »Diese Bühne damals zu erbauen, war ein Wagnis. Und sie heute originalgetreu zu rekonstruieren, war es ebenso. Aber es hat sich gelohnt. Die Resonanz, vor allem von Architekten und Theaterleuten, aber auch von den Zuschauern war sehr groß«, berichtet Dieter Jaenicke stolz. »Eine Theaterbühne ohne Fluchtpunkte und ein schattenfreier Lichtraum ist wie eine Art Aufbruch für ein neues performatives Verständnis, ein Prototyp der Moderne, der neuen Bühne für das Theater des 20. Jahrhunderts. Viele große Theatermacher, angefangen von Max Reinhardt bis Peter Brook und Robert Wilson, haben sich auf diese Bühne bezogen. Aber es hatte sie keiner, der noch lebt, je gesehen!« Es reizte Dieter Jaenicke und sein Team, den historischen Theaterraum des Festspielhauses nachbauen zu lassen.
Auf das Licht als eine der bemerkenswertesten Elemente der legen- dären Bühne, setzt der Festspielhausintendant besonderes Augenmerk. »5500 dimmbare Glühlampen aus Weißrussland mit ihren Fassungen und Verkabelungen wurden wie einst hinter der Bühne angebracht. Das ist ein unglaublich warmes und voluminöses Licht, das den ganzen Raum in jeden kleinsten Winkel hinein in gleicher Weise beleuchtet und das tatsächlich keine Schatten wirft. Damals wie heute für die Theaterleute ideale Voraussetzungen für die große Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes und Theaters weltweit. Und dafür steht das Festspielhaus als Europäisches Zentrum der Künste Dresdens heute wieder. Es setzt sich innerhalb verschiedener Projekte intensiv mit der Geschichte des Hauses und mit dem Ausdruckstanz auseinander, stets in Verbindung mit der Frage, was heißt das für uns heute.
Im Kontrast zur weißen Bühne agiert eine schwarze Figur, umhüllt von einem weiten Mantel, versteckt hinter einer weißen Maske. Füße und Hände der Tänzerin krallen sich fest zusammen, ertasten, erkunden vorsichtig den Raum um sich. Die Bewegungen werden größer, weiter. Die Figur bäumt sich machtvoll auf, stampft energisch auf den Boden und kehrt sanft zurück wieder in sich selbst. Die Choreografin und Tänzerin Katja Erfurth probt an ihrem Stück »Verwandlungen«, in dem es um verschiedene sich fortwährend verändernde Lebensstationen geht.
Regisseure, Choreografen, Schauspieler und Musiker, Künstlerinnen und Künstler der freien Tanzszene setzen sich mit dem historisch-revolutionären Theaterraum auseinander und bespielen ihn mit ihren zeitgenössischen Werken. Heute gebe es ein bestimmtes Konzept für den Zeitgenössischen Tanz gar nicht mehr, sondern eine Vielfalt unterschiedlichster Ideen, meint Dieter Jaenicke. »Es gibt die Möglichkeit vom zeitgenössi- schen Tanz als die vielleicht offenste Kunstform sich zu verbinden mit Bildender Kunst, mit Musik, mit Soundinstallationen, mit anderen Tanzformen, dem traditionell indischen Tanz, mit Flamenco, mit richtig harter Rockmusik. Es sind bei einigen Kompanien in den letzten Jahrzehnten Elemente hinzugekommen, die aus dem Hochleistungssport kommen. All das ist möglich«, sagt Jaenicke.
Auch wenn der Bühnenraum mit unterschiedlicher heutiger zeitgenössischer Kunst bespielt werde, bleibe er in seinem Eindruck völlig zeitlos. Denn die historische Bühne mitsamt dem Festspielhaus will sich nicht als Museum verstehen, auch wenn es eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat.
Das vielversprechende sozialreformerische Experiment, die Utopie Hellerau endete abrupt. Der Kunst- und Tanztraum währte nur zwei Jahre. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verließen Richard Riemerschmid, der Chefarchitekt der Gartensiedlung und auch Heinrich Tessenow Hellerau. Die Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus wurde geschlossen. Im NS-Regime galten alle kulturellen Strömungen, die mit der Kunstauffassung und dem Schönheitsideal der Nationalsozialisten, der sogenannten Deutschen Kunst, nicht in Einklang standen, als entartet. Die Deutschen Werkstätten Hellerau wurden in die Kriegswirtschaft eingegliedert. In den 30er Jahren wurde das Festspielhaus Hellerau als Militärlager genutzt. Die Nazis beschlagnahmten das Areal. In die Kulturkathedrale zog eine Polizeischule ein.
Im Foyer des Hauses hängen großformatige heroische Wandgemälde, Hinterlassenschaften der Sowjetarmee, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Haus als Kaserne und Lazarett nutzten. Das wegweisende Yin-und-Yang-Zeichen, die harmonische Balance im Wandel aller Dinge, ersetzten die Soldaten gegen den Sowjetstern. Der einst berühmte Bühnenraum diente als Sporthalle. Und doch, wenn auch nur für kurze Zeit, hatten die Gründerjahre von Hellerau eine weitreichende Strahlkraft.
1992 ging das Festspielhaus in den Besitz des Freistaates Sachsen über und gehört seitdem zu einem der wichtigsten Theaterbauten der klassischen Moderne für zeitgenössische Künste Deutschlands und Europas. »Europäisches Zentrum der Künste«, so der Name, der für einen »Arbeitsplatz Kunst« steht. Ein Experimentierfeld für Neue Musik, Theater, Zeitgenössischen Tanz, Performance, Bildende Kunst und Neue Medien, anknüpfend und erinnernd an eine einst große Idee der Zukunft.
»Das geniale Konzept einer konstanten und zugleich variablen Bühne gliedert den Tanzraum in Vordergrund und Hintergrund und bietet viel Raum für Nähe und Distanz, Bewusstes und Unbewusstes.«
Dieter Jaenicke