Die gute Frau
Olga Rinke liebt das Maßvolle. Es soll nicht »zu groß« sein. Schon als Mädchen spielt sie nicht mit den Kindern, sondern sieht nur zu. In einem kargen Dorf in Pommern verliert sie früh ihre Eltern. Für Erziehung sorgt eine Großmutter mit wenig Liebe. Dabei macht Olga keine Probleme. Sie ist geradlinig und weiß, was sie will: Lehrerin werden. Sie kämpft sich durch zu diesem Ziel.
Bernhard Schlink erzählt in seinem neuen Roman von einem Frauenleben vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1970er. Der Stoff könnte ein Verkaufsschlager und verfilmt werden, wie Schlinks »Vorleser« von 1995. Er erzählt die Geschichte einer unbeirrbaren Frau in den Wirren der Zeit. Der Roman ist beine Zeitgeschichte und Liebesgeschichte zugleich in der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik – auf wenig mehr als 300 Seiten.
Herbert, der Gutsherrensohn, ist die große Liebe des armen Dorfmädchens. Sie kommen zusammen, doch Herberts Eltern lehnen Olga ab. Heimlich treffen sie sich, eine Zukunft aber können sie nicht planen. Herbert entflieht der Situation, meldet sich freiwillig zum Militäreinsatz in Deutsch-Südwestafrika. Er kann sich nicht entscheiden und will es nicht. Lieber geht er auf Abenteuerreisen und Exkursionen. Auch im Ersten Weltkrieg ist er dabei, Olga schreckt aber das Militaristische. »Mein Lieber«, schreibt sie in einem Brief, »letztes Jahr wolltest Du vor Weihnachten zurück sein, dieses Jahr wollten es die Soldaten. Auf Euch Männer ist kein Verlass.«
Herbert entzieht sich schließlich in einer Arktisexpedition. Jahrelang reagiert er nicht auf Olgas Briefe nach Tromsø in Norwegen, postlagernd. Dann steht fest, dass er nicht überlebt hat. Olga hat ihre Liebe verloren.
Als Lehrerin ist sie nahe Tilsit in Ostpreußen versetzt worden. Herberts Tod ist ihr Eintritt in die Einsamkeit. 1945, inzwischen in einem schlesischen Dorf, muss sie
Der Stoff könnte ein Verkaufsschlager und verfilmt werden, wie schon Schlinks »Vorleser« von 1995.
fliehen. Da ist sie bereits taub, wird nie mehr unterrichten. Nach dem Krieg siedelt sie sich in der Neckarregion an, zu ihrer kleinen Rente verdient sie sich etwas hinzu durch Näharbeiten. Die Einsamkeit wird unterbrochen, als Ferdinand, der Sohn einer Pfarrersfamilie, sich an sie hängt. Er spürt ihren Zustand, gibt ihr Wärme und sie lässt sich immer mehr freundschaftlich auf ihn ein. Ferdinand wird später derjenige sein, der Olgas Briefe an Herbert erhält. Dadurch gewinnt im dritten Teil des Buches, dem Abdruck der Briefe, ihre Figur erst wahrhaft an Kontur.
Schlinks Olga ist ein idealistisches Gegenbild zur deutschen Realität in diesen Jahren. Sie ist eine gute Frau, wird nie ausfällig. Mit großer Empathie bringt der Autor sie durch alle Schwierigkeiten und hält ihr zugute, dass sie nie zur Mitläuferin des NS-Regimes wird. Sie hat ein klares politisches Gespür, verachtet Gewalt, ist treu, liebevoll und steht zu ihren Lieben. Sie hat ihre Liebe verfehlt, ist darüber aber nicht untergegangen. Das Makellose hat etwas Schablonenhaftes.
Bernhard Schlink: Olga. Diogenes. 310 S., geb., 24 €.