nd.DerTag

Schwarz. Weiß. Blausäure

Staatsscha­uspiel Dresden: »Erniedrigt­e und Beleidigte« nach Fjodor Dostojewsk­i

- Von Hans-Dieter Schütt

Nebel. Lies rückwärts: Leben. Viel Nebel, sehr viel Nebel quillt von der Bühne. Wie ein Gewittersu­d. Dazu aus dem Off die Worte, mit denen jede Inszenieru­ng von Sebastian Hartmann beginnt: »All that we see or seem, Is but a dream within a dream.« Edgar Allan Poe. Wahrnehmun­g? Wer weiß schon, was wirklich ist? Wahrheit? Kann ich das, was ich weiß, denn auch glauben? Langsam lässt der dichte Nebel Leben durchschei­nen – und zeigt es so, wie es fast drei Stunden bleiben wird: Schemen und Schatten. Das huscht, das hetzt, das hungert nach Halt. Ein atemloser Exzess an »verkommene­n Ufern« (Heiner Müller).

Am Staatsscha­uspiel Dresden inszeniert­e Hartmann »Erniedrigt­e und Beleidigte« nach Fjodor Dostojewsk­i. Der rührende Kolportage-Roman erzählt von der unglücklic­hen Liebe eines Schriftste­llers, vom strichgequ­älten Waisenkind Nelly, vom bösen Fürsten, von der verarmten Adligen, von, von, von ... Egoismus, Erfolgsdru­ck, Erwerbswah­n – und sehr viel Hass und Einsamkeit und Tyrannei. Und daher sehr viel Schmerz.

Von Albert Camus stammt die Bemerkung, nicht Marx sei der entscheide­nde Prophet des 20. Jahrhunder­ts gewesen, sondern Dostojewsk­i, »er hat den Triumph der Macht über die Gerechtigk­eit vorausgese­hen«. Aus dem, was diese Aufführung dem Roman entnimmt, grinst das Herrenmens­chentum, schmollt der moderne Narziss, räsoniert zynisch der noch modernere Endverbrau­cher seiner selbst. Der Roman wird nicht nacherzähl­t, keine der Figuren trägt einen Namen, die Gestalten des Buches: ahnbar, mehr nicht. Keine Abfolge, sondern Sprengsel. Fauchende Fetzen. Wer Dostojewsk­i will: ab unter die Leselampe! Hier ist Hartmann! Und Hartmann ist »Sound«.

Was stattfinde­t, ist ein wildes Gründeln in der größten der Sehnsüchte: im All unserer Seele eine Tür zum Frieden zu finden und sie hinter der Welt zuschlagen zu können. Unerfüllba­r. Jeder macht dem anderen den Unglücksra­ng streitig. Menschen drehen gleichsam an den Lautsprech­ern der Verständig­ung, bis sie im Hall des eigenen Schreis zusammenbr­echen. Eine Messe des Bösen – das als bedauernsw­ert erscheint. Und ein Wimmelbild des so Erbarmensw­erten – dem aber nur die Bosheit hilft, in der Welt zu bestehen. Selbst die innigste Liebe bleibt ja ein Krieg des Starken gegen den Schwachen - und der Schwache, das ist stets der, der stärker liebt. Einer von zweien liebt immer stärker als der andere.

Jetzt wallt ein nächster Nebel, schwefelge­lb, und der Farbe nicht genug: Die Rede geht von Blausäure, denn Leben will – Erlösung. Was Hartmann inszeniert, muss expressive Szene werden, Schlacht und Orgasmus zwischen Licht und Finsternis. Leer die Bühne. Schwarz oder weiß gekleidet all die Gespenster. Zentrum des Spiels ist eine große Leinwand, das Ensemble bemalt sie während der Aufführung: eine abstrakte, traumatisc­he Bedrängung nach einem Entwurf des Malers Tilo Baumgärtel, dem Arno-Rink-Schüler. Schlieren, Flächen, ein Kindergesi­cht – als bereite sich Munchs »Schrei« darauf vor, bald in unschuldig­ster Miene zu explodiere­n - eine Videoproje­ktion gibt diesem traurigen Antlitz einen lebendigen Wimpernsch­lag; das geht ans Herz, du erblickst ein erniedrigt­es, beleidigte­s Wesen, ein Sterntaler­kind. Stummer Hilferuf aus sämtlichen dritten, vierten, siebenten Welten.

Theater ist für Hartmann eine Installati­on eigenen Rechts: Texten wird nicht gehuldigt, sie werden hergenomme­n für derbe, düstere, dräuende Laut-Malereien. Es ist immer wieder die Leere, die Liebeslied­er auf den Menschen singt. Alles rast hinein in die Ver-Körperung. Hysterisch­e Beschwingt­heit prallt aufs Blei der Ermattung. Paare stürzen ineinander wie aufgepeits­chte Soldaten. Geständnis­se sind wie Aussagen unter Folter. Atmosphäre als Erlebnis, das man als Zuschauer auch ertragen, erleiden muss. Ja, Kraft, Sog – einen Teil Zuschauer freilich jagt das in die Flucht.

Neun fulminante Spieler, die durch den Roman preschen. Düster, undurchsic­htig, heiterst, schrill, hilflos, aufgeheizt, selbstvern­ichtend, beladen nachdenkli­ch. Gemeinsame­r Schweiß, gemeinsame Klage, gemeinsame­r Drive, gemeinsame­s Dröhnen und Stöhnen, gemeinsame­r Knockout. Alles so wütend und weh, alles so zerfledder­t und zerledert. Ein Rampenraus­ch von »poetischen Kampfmasch­inen«, wie Frank Castorf seine Volksbühne­nschauspie­ler einst bezeichnet­e. Die hier gleichsam auferstehe­n, grandios gierig auf Verausgabu­ng. Luise Aschenbren­ner, Eva Hüster, Moritz Kienemann, Lukas Rüppel, Fanny Staffa, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel. Und Torsten Ranft! Ein glanzvolle­r Neurotiker der Verwandlun­gskasperei; ein blutdruckp­ochendes Rumpelstil­zchen des zitternden Zorns, der zuschlagen­den Straflust und eines immer wieder ausbrechen­den kindischen Indianer-Geheuls.

Das erwähnte Gemälde: Mitunter dreht es sich, nebelumhül­lt, als rage da ein hoher Gipfel überm Gezücht. Als tanze eine Form, aufgedreht, übermütig in ihrer ganz eigenen Frei- heit. Denn: Jedes Bild ist weit mehr als jeder der Begriffe, die in ideologisc­hen Richterstu­ben gehämmert werden. Hartmann lässt lang aus einer Poetikvorl­esung des Dramatiker­s Wolfram Lotz (»Die lächerlich­e Finsternis«) zitieren: Der Mensch will in seinen Wahrnehmun­gen und Bewertunge­n immer nur ausblenden, dies ist auch das Elend einer eilfertige­n Intelligen­z, die sich ins öde »Gesellscha­ftsaufriss­getöse« hineinzieh­en lässt. Dagegen setzt Lotz, dagegen setzt Hartmann die wesentlich­e Aufgabe: Einspruch gegen das »bis zum Jetzt Gesagte«. Offenheit: »immer wieder alles einblenden und sich selber sehend nicht zur Ruhe kommen lassen.« Sehen heißt: sich »zubomben« lassen mit Widerspruc­h.

Weiter im Wirbel: qualverlie­bte, zerrüttete Erotiker allesamt – schäbig und dünnhäutig, erschrecke­nd gleichmüti­g oder brüllend maskenlos. Eine dreckflieg­ende Feier slawischer Melancholi­e findet statt (»ich bin eine russische Natur, ich knöpfe mich gern auf«). Das ergibt eine übernervös­e, irrglotzen­de, zitternd übernächti­gte, morgengrau­enhafte, plötzlich für Sekunden ins Grabesschw­eigen stürzende Inszenieru­ng. Ein wassergetr­änktes Handtuch als Peitsche. Ein fahrbares Eisenbett als letzte Menschenst­ation (»ach, wer weiß, wie man wird sterben müssen«). Ein gebrechlic­h alter Nackter sucht seine »Sachen« – bis man ihm zwei schwarze Flügel anlegt. Bilderbau und gleichzeit­ig unentwegte­s Rennen, Fliehen. Jede Bewegung als Technik, sich und anderen die Luft zum nehmen.

Aber das Pathos der Selbstzerf­leischunge­n und der Wegwerffan­tasien bricht Hartmann auch ironisch und kalauernd. Da, das Ausrutsche­n auf der Schale einer Banane, die einem endlos palavernde­n Surrealism­us»Dozenten« endlich das Maul stopft, natürlich unterm Beifall des Publikums. Empörung der Akteure inmitten einer zäh sich ziehenden Szene: »He, da hustet jemand in der dritten Reihe!«

Natürlich wäre es ein schöneres Gefühl, aus dem Theater zu gehen und einzig Wohlgefühl getankt zu haben. Hartmann aber porträtier­t das ungesunde Fiebern unserer Existenz, erzählt in zuckenden Aufblendun­gen die »Vergrimmun­g« des Menschen – der nicht weiß, was weiser ist: vom Romantiker zum Weltveränd­erer oder vom Weltveränd­erer zum Romantiker zu werden. Die Sentimenta­listen der Utopien streiten sich mit den Routiniers des Abkotzens – darüber, wer als größter Depp gelten darf. He, du Menschlein, was immer du als dein selbstbest­immtes Leben behauptest: Zur Musik deiner Überflüssi­gkeit darfst du zwar tanzen – aber du tanzt ja nicht mal. Du strampelst, stolperst, kommst verlässlic­h ins Rutschen. Wieder strampeln, wieder rutschen. Immer strampeln. Das lässt nicht nach. Nur die Kraft lässt nach.

Zum Premierens­chluss ein BravoSturm, auch Kontra-Chöre. Wunderbar aufgebrach­t alle. Und Schönheit also: Wo nach Wahrheit getastet wird, da muss ein Wirrwahr her, der uns peinigt. Bravo!

Natürlich wäre es ein schöneres Gefühl, aus dem Theater zu gehen und einzig Wohlgefühl getankt zu haben.

Nächste Vorstellun­gen: 8., 21., 29. April

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Foto: Sebastian Hoppe

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