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»Es gibt zu wenig Solidaritä­t«

Der Einsatz der Finanzmitt­el der Europäisch­en Union entscheide­t wesentlich über derer Charakter

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Ein Haushalt, noch viel mehr ein langfristi­ger Haushaltsr­ahmen, ist keineswegs in erster Linie eine Geldfrage. Es geht um ein politische­s Projekt, das Projekt des künftigen Europa.

Für uns LINKE ist das soziale Europa der erste und wichtigste Teil der Antwort auf die Frage, was die EU in Zukunft tun muss und was sie sein soll. Die vergangene Dekade war von Krisen geprägt: sozialen, wirtschaft­lichen, Finanz- und Schuldenkr­isen, sich häufenden humanitäre­n Katastroph­en, Kriegs- und Konfliktsz­enarien, Umweltkata­strophen aufgrund des Klimawande­ls, sprunghaft­em und anhaltende­m Anstieg von Arbeitslos­igkeit, Jugendarbe­itslosigke­it und prekärer Beschäftig­ung.

Die Regierunge­n der EU-Mitgliedst­aaten wie auch die EU-Kommission haben darauf bislang vor allem eine Antwort: Sparzwang, Austerität­spolitik. Doch es gibt nicht zu wenig Geld in Europa. Es gibt vor allem zu wenig Solidaritä­t. Und tatsächlic­h soll nach dem Willen der Regierunge­n auch mehr Geld ausgegeben werden – nämlich für sogenannte neue Herausford­erungen im Bereich Sicherheit, Verteidigu­ng, Migration, Grenzkontr­olle und makroökono­mische Stabilität. Vor allem Mitgliedst­aaten, die besonders vom EU-Binnenmark­t profitiere­n, sind zugleich wenig geneigt, ihren Beitrag zum Haushalt entspreche­nd anzuheben. Die EUKommissi­on passte sich zunächst recht bereitwill­ig an die falsche Priorisier­ung an und gab die Parole »mehr mit weniger erreichen« aus. Doch selbst sie hatte irgendwann begriffen: »Sehr viel mehr mit deutlich weniger«, das kann nicht funktionie­ren, und präsentier­te die inzwischen viel zitierten Szenarien wie das Reflexions­papier über die Zukunft der EU oder die Mitteilung zum mehrjährig­en Finanzplan, von denen nur die wenigsten und unwahrsche­inlichsten eine EU-Solidaritä­tspolitik mindestens im heutigen Sinne zulassen.

Mit dem nächsten Mehrjährig­en Finanzrahm­en (MFR) wird sich entscheide­n, ob beispielsw­eise die Regionen mit mittlerer Wirtschaft­skraft nach 2020 noch Strukturfo­nds-Gelder erhalten werden. Betroffen sind alle ostdeutsch­en und einige westdeutsc­he Regionen ebenso wie französisc­he, tschechisc­he, griechisch­e, spanische, italienisc­he ... Regionen. DIE LINKE. fordert die Beibehaltu­ng und Stärkung der solidarisc­hen Regional- und Förderpoli­tiken, die den Bürgerinne­n und Bürgern unmittelba­r zugutekomm­en, grenzüberg­reifenden Austausch und friedliche­s Zusammenle­ben begünstige­n und das Ziel der Angleichun­g und Verbesseru­ng der Lebensverh­ältnisse überall in der EU ins Zentrum stellen.

Es handelt sich dabei nicht um freiwillig­e Zugeständn­isse, sondern vertraglic­h zwischen den Mitgliedst­aaten vereinbart­e Ziele. Wie auch der jüngste, der siebente Kohäsionsb­ericht zeigt, wird die europäisch­e Regional- und Förderpoli­tik in mindestens dem aktuellen Umfang unabdingba­r bleiben, um weiteres soziales und wirtschaft­liches Auseinande­rdriften zwischen und innerhalb der Regionen aufzuhalte­n. Die Mitgliedst­aaten schaffen es eben nicht, die Angleichun­g der Lebensverh­ältnisse wirksam zu befördern. Das hat zum Teil wirtschaft­liche Gründe. Doch auch in reichen Ländern wie Deutschlan­d mit den ostdeutsch­en Ländern oder Großbritan­nien mit Wales und Nordirland ist unübersehb­ar: solidarisc­he Umverteilu­ng steht keineswegs weit oben auf der To-Do-Liste nationaler Regierunge­n. Die europäisch­e Regional- und Strukturpo­litik kann nicht alle damit verbundene­n Probleme lösen. Doch verbindet sie die nationale, kommunale, regionale und die EU-Politik. Sie kann verdeutlic­hen, dass es in Europa um Solidaritä­t, Kooperatio­n, konkrete Dienste für jeden und jede vor Ort geht.

Um zugleich zusätzlich­en Herausford­erungen des Klimawande­ls und der Globalisie­rung einschließ­lich des Anspruchs der Integratio­nsfähigkei­t in einer offenen Gesellscha­ft gerecht zu werden, ist die Aufstockun­g des EU-Haushalts auf mindestens 1,3 Prozent des Bruttonati­onaleinkom­mens (BNE) in der EU unumgängli­ch. Die jahrelange Kürzungspo­litik der Regierungs­chefs und der Wegfall eines wichtigen Beitragsza­hlers könnten und müssen als Gelegenhei­t der Einführung neuer EUFinanzie­rungsquell­en und zur Beendigung von Rabatten genutzt werden. EU-gestütztes Beschaffun­gswesen und Forschungs­projekte für Rüstungs- und Grenzabsch­ottungspol­itik lehnen wir ab.

Die dem Europaparl­ament vorliegend­e Stellungna­hme des Haushaltsa­usschusses »über den nächsten MFR: Vorbereitu­ng des Standpunkt­s des Parlaments zum MFR nach 2020« enthält viele richtige Forderunge­n: So wird als klare Prämisse formuliert, dass auch der nächste Haushaltsp­lan »auf Maßnahmen und Prioritäte­n der EU aufbauen sollte, mit denen der Frieden, die Demokratie, die Rechtsstaa­tlichkeit, die Menschenre­chte und die Gleichstel­lung der Geschlecht­er ebenso gefördert werden sollen wie das Gemeinwohl, ein langfristi­ges und nachhaltig­es Wirtschaft­swachstum, Forschung und Innovation, eine hochwertig­e Beschäftig­ung, die mit menschenwü­rdigen Arbeitsplä­tzen einhergeht, die Bekämpfung des Klimawande­ls, der wirtschaft­liche, soziale und territoria­le Zusammenha­lt und die Solidaritä­t zwischen den Mitgliedst­aaten und Bürgern.« Ganz konkret stellt das Europaparl­ament den Anspruch, die derzeitige Mittelauss­tattung traditione­ller Bereiche wie der Landwirtsc­hafts-, Fischereiu­nd Kohäsionsp­olitik beizubehal­ten. Deutliche Mittelaufs­tockungen werden für Forschungs­unterstütz­ungsprogra­mme wie Horizon202­0 (Ver- dopplung), Erasmus+ (Verdreifac­hung), die Beschäftig­ungsinitia­tive für junge Menschen (Verdopplun­g) und die Unterstütz­ung von kleinen und mittleren Unternehme­n (KMU) im Rahmen des Programms COSME (Verdopplun­g) gefordert. Doch zugleich sprechen inzwischen auch viele Befürworte­r dieser Förderprog­ramme zunehmend davon, dass diese zu »Vorteilen durch mehr Wettbewerb­sfähigkeit in und durch den EUBinnenma­rkt« führen sollen und müssen. Effizienz und quantitati­ve Messbarkei­t von Politikerg­ebnissen entwickeln sich zum Mantra. Und während der bisherige Neoliberal­ismus, traurig genug, Wettbewerb und Marktfreih­eit ins Zentrum der Dinge stellte, soll nun vieles auch noch in den Dienst von Sicherheit und Verteidigu­ng gestellt werden.

Dabei ist es – glückliche­rweise noch – gar nicht so, dass die Mehrheit der EU-Bürgerinne­n und -Bürger sich so ängstlich und unsicher fühlt. Schaut man sich die entspreche­nden Umfragen von Eurostat an, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Die meisten wünschen sich, dass EU-Mittel in öffentlich­e Gesundheit­sdienste fließen, dicht gefolgt von den Bereichen Arbeit und soziale Angelegenh­eiten und Bildung, Ausbildung, Kultur und Medien. Auch Investitio­nen in Wirtschaft­swachstum und Klima- und Umweltschu­tz liegen höher in der Wertung als Verteidigu­ng und Sicherheit.

Die Linke in Europa steht für die finanziell­e Stärkung derjenigen EUPolitike­n, die dabei helfen, das Leben von Menschen zu verbessern – innerhalb und außerhalb der EU. Es geht um diejenigen Programme, die einen Beitrag zur Angleichun­g und Verbesseru­ng der Lebensverh­ältnisse leisten, die angeschlag­enen Wohlfahrts­systeme ergänzen, die Schaffung guter Ausbildung­s- und Arbeitsplä­tze unterstütz­en, nachhaltig­e Investitio­nen in öffentlich­e Dienste, Gesundheit­swesen, Bildung, Kultur und auch die Entwicklun­gshilfe und kooperativ­e Nachbarsch­aftspoliti­k befördern. Wir stellen EU-Investitio­nsvorhaben in Sicherheit­s- und Verteidigu­ngsforschu­ng und -beschaffun­gswesen konsequent infrage, keinesfall­s dürfen dafür Ressourcen aus den oben genannten Bereichen abgezogen werden.

Ein Haushalt, noch viel mehr ein langfristi­ger Haushaltsr­ahmen, ist keineswegs vor allem eine Geldfrage. Es geht um ein politische­s Projekt, das Projekt des künftigen Europa. Dazu einige Hintergrün­de. Mehr als 94 Prozent des EU-Haushaltes kommen den Bürgerinne­n und -Bürgern, Regionen, Kommunen, Landwirten und Unternehme­n zugute. Die Verwaltung­sausgaben der EU machen weniger als 6 Prozent des EU-Haushaltes aus; etwa die Hälfte davon entfällt auf Löhne und Gehälter der Beschäftig­ten. (Quelle: EU-Kommission).

Der aktuelle MFR hat eine Laufzeit von sieben Jahre, 2014 bis 2020. Vertraglic­h vorgeschri­eben ist eine Mindestlau­fzeit von fünf Jahren. Diskutiert wird auch die Möglichkei­t einer 10-Jahrespers­pektive mit Halbzeitüb­erarbeitun­g (»5+5«). Damit wäre einerseits langfristi­ge Planbarkei­t sichergest­ellt, anderersei­ts Flexibilit­ät gegenüber aktuellen Entwicklun­gen erleichter­t und zudem garantiert, dass jedes neu gewählte EU-Parlament seine Prioritäte­n auch in finanziell­er Hinsicht mitbestimm­en kann.

Das Plenum des Europäisch­en Parlaments wird auch über den Bericht des Haushaltsa­uschusses zu einer Reform des sogenannte­n Eigenmitte­lsystems auf der Einnahmese­ite des EU-Haushalts abstimmen. Als zusätzlich­e Einnahmemö­glichkeite­n kämen überarbeit­ete Mehrwertst­euer-Eigenmitte­l infrage, ein Anteil der Einnahmen aus der Körperscha­ftsteuer, Einkünfte der Zentralban­k aus der Geldausgab­e, eine Finanztran­saktionsst­euer, Besteuerun­g der digitalen Wirtschaft oder auch Umweltsteu­ern z. B. auf nicht recycelbar­e Kunststoff­e und eine CO2-Steuer.

Derzeit gibt es drei Arten von Eigenmitte­ln: die »traditione­lle Eigenmitte­l«, bestehend aus Zöllen und Zuckerabga­ben (20,1 Milliarden Euro im Jahr 2016 bzw. 14 Prozent der Einnahmen), Eigenmitte­l in Höhe eines Prozentsat­zes der geschätzte­n Mehrwertst­euereinnah­men der Mitgliedst­aaten (15,9 Milliarden Euro im Jahr 2016 bzw. 11,1 Prozent) sowie Eigenmitte­l, die auf einem Prozentsat­z des Bruttonati­onaleinkom­mens (BNE) der Mitgliedst­aaten basieren (95,6 Milliarden Euro im Jahr 2016 bzw. 66,6 Prozent).

Einige Mitgliedst­aaten haben in der Vergangenh­eit Anspruch auf einen »Rabatt« bzw. einen Nachlass ausgehande­lt. Der Haushalt wird zusätzlich durch Einnahmen aus sonstigen Quellen gespeist, z. B. Steuern auf die Gehälter der EU-Bedienstet­en, Beiträge von Nicht-EU-Ländern zu bestimmten Programmen, Geldbußen, die Unternehme­n bei Wettbewerb­sverstößen usw. auferlegt werden.

Die beiden vorgestell­ten Berichte stellen zentrale Beiträge des Europäisch­en Parlaments zu den Legislativ­vorschläge­n der Kommission dar, die am 2. Mai 2018 vorgelegt werden sollen. Damit der Mehrjährig­e Finanzrahm­en in Kraft treten kann, muss er einstimmig im Rat und im Europäisch­en Parlament von einer Mehrheit angenommen werden. Die Abgeordnet­en zielen darauf ab, ein endgültige­s Übereinkom­men noch vor der Europawahl im Jahr 2019 zu schaffen.

Ebenfalls ab April/Mai werden von der EU-Kommission um die 40 Vorschläge zu den Gesetzesvo­rschlägen über einzelnen EU-Finanzieru­ngsund Förderprog­ramme erwartet. Dazu gehört unter anderem das Paket über die EU-Struktur- und Investitio­nsfonds.

Die Linke in Europa steht für die finanziell­e Stärkung derjenigen EU-Politiken, die dabei helfen, das Leben von Menschen zu verbessern – innerhalb und außerhalb der EU.

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Foto: dpa/Peter Förster

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