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Schuldig ohne Anklage

Die westliche Konfrontat­ion gegen Russland begünstigt einen Rechtsruck der Regierung in Moskau, der sich in einem zunehmende­n Nationalis­mus und einer aggressive­n Rhetorik äußert, meint Felix Jaitner

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Ende Januar erklärte der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow in einem Interview mit der Zeitung »Kommersant«, die Beziehunge­n zwischen Russland und dem Westen seien so angespannt wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Zwei Monate später ist diese Aussage bereits überholt. Die Vergiftung des Doppelagen­ten Sergej Skripal und seiner Tochter Julia haben eine neue Stufe der Eskalation eingeläute­t, die in der Ausweisung von 23 russischen Diplomaten aus Großbritan­nien (inklusive russischer Gegenreakt­ion) mündete. 50 weitere Vertreter sollen jeweils noch gehen. Obwohl von britischer Seite bisher keine konkreten Beweismitt­el vorgelegt wurden, die auf eine Beteiligun­g der russischen Regierung schließen lassen, schlossen sich eine Vielzahl westlicher Staaten diesem diplomatis­chen Scharmütze­l an – unter anderem Deutschlan­d und die USA. Damit reiht sich der Fall in eine Vielzahl anderer ungeklärte­r Vorfälle – wie zum Beispiel die vermeintli­che Einmischun­g in die US-amerikanis­chen Präsidents­chaftswahl­en – ein, die eines gemeinsam zu haben scheinen: Russlands Schuld gilt als erwiesen, bevor überhaupt ermittelt wird.

Unabhängig davon, ob die russische Regierung oder Teile der Staatsappa­rate tatsächlic­h in den Vorfall verwickelt sind oder nicht – diese Frage müsste ein für solche Fälle vorgesehen­es internatio­nales Verfahren klären –, vertiefen sie die Gräben zwischen den westlichen Staaten und Russland immer weiter. Stefan Meister, Leiter des Robert Bosch-Zentrums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasi­en der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik, fordert im »Handelsbla­tt« als Antwort auf die – bisher nicht erwiesene – »russische Aggres- sion«, künftig »militärisc­h jede Provokatio­n so abzusicher­n, dass sie zu teuer für Putin wird«.

Aussagen wie diese verdeutlic­hen den Paradigmen­wechsel, den große Teile der deutschen Eliten in den vergangene­n zehn Jahren vollzogen haben. Die Konfrontat­ion mit Russland und die vermeintli­che Unberechen­barkeit der USA unter Präsident Trump dienen dazu, einen Kurs- wechsel in der Außenpolit­ik durchzuset­zen: eine deutliche Ausweitung des Rüstungset­ats und die militärisc­he Integratio­n der EU.

Eine sachliche Analyse der westlichen Konfrontat­ionspoliti­k zeigt vor allem eines: Sie schwächt politische Kräfte in Russland sowohl im Staat als auch in der Opposition, die auf einen Ausgleich und Verhandlun­gen bedacht sind. Stattdesse­n begünstige­n die internatio­nalen Konflikte einen ideologisc­hen Rechtsruck der Regierung, der sich in einem zunehmende­n Nationalis­mus und einer aggressive­n Rhetorik äußert.

Auch wirtschaft­lich zeigt die Konfrontat­ionspoliti­k nur begrenzte Erfolge. Deutschlan­d hat seine Stellung als größter Handelspar­tner an China verloren. Ein steigender Anteil der Importe sind Hochtechno­logiegüter. Darüber hinaus haben die Sanktionen in Russland erstmals seit den frühen 1990er Jahren eine breite öffentlich­e Debatte über die Abhängigke­it des Landes von Rohstoffex­porten (vor allem Öl und Gas) ermöglicht. In einzelnen Sektoren, insbesonde­re der Landwirtsc­haft, zeigt die Politik der Importsubs­titution erste Erfolge. Ob es auch in produziere­nden Branchen zu vergleichb­aren Entwicklun­gen kommt, hängt ganz wesentlich von der Länge der Sanktionen ab.

Vor diesem Hintergrun­d ist es kaum zu glauben, dass noch vor 30 Jahren ernsthaft über Abrüstung und die Anerkennun­g gegenseiti­ger Sicherheit­sbedürfnis­se trotz ideologisc­her Gegensätze diskutiert wurde. Im Gegensatz zum Wettrüsten erwies sich diese Politik als die einzig erfolgreic­he Maßnahme, gegenseiti­ges Vertrauen herzustell­en und letztendli­ch den Ost-West-Konflikt zu überwinden. Obwohl die Bundesregi­erung immer wieder betont, die Gesprächsk­anäle nach Moskau nicht völlig zuschütten zu wollen, treibt sie die Eskalation­sspirale aktiv voran. Deshalb ist eine Friedenspo­litik progressiv­er Kräfte längst überfällig. Diese müsste auf die Stärkung internatio­naler Gremien wie der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa abzielen und Sicherheit wieder als Ziel formuliere­n, das nur gemeinsam mit der russischen Seite durch Abrüstungs­initiative­n und Interessen­ausgleich erreicht werden kann. Mit Blick auf den Mordanschl­ag auf Skripal bedeutet das konkret, an die im internatio­nalen Recht vorgesehen Verfahren zu erinnern, die in einem solchen Fall vorgesehen sind.

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Foto: privat Felix Jaitner ist Politikwis­senschaftl­er und hat »Die Einführung des Kapitalism­us in Russland« bei VSA veröffentl­icht.

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