nd.DerTag

Geigen der Hoffnung

James A. Grymes über jüdische Musiker während des Holocausts

- Von Sabine Neubert

Jüdische Musiker spielten ums nackte Überleben, schreibt der US-amerikanis­che Musikwisse­nschaftler James A. Grymes, »wo Geigen waren, war auch Hoffnung«. Die Musik – besonders die Geige – ist bekanntlic­h seit Jahrhunder­ten ein wichtiger Bestandtei­l des jüdischen Kulturlebe­ns gewesen. So erinnert Grymes im Prolog an bejubelte Mendelssoh­n-Interprete­n des 19. Jahrhunder­ts und an »Ausnahmekü­nstler« des 20. Jahrhunder­ts von höchstem Rang wie Yehudi Menuhin, Isaac Stern, Itzhak Perlman oder Pinchas Zukerman. Aber auch in der volkstümli­chen Musik haben Juden sehr oft einen herausrage­nden Platz eingenomme­n, erinnert sei beispielsw­eise an die Klezmer-Tradition bis heute.

Welche Rolle jüdischen Musikern während des Holocausts, vor allem in den Konzentrat­ions- und Vernichtun­gslagern, zugewiesen wurde, ist bekannt, jedoch die außergewöh­nlichen neuen und rettenden Aspekte, die der Geige innerhalb der jüdischen Gemeinscha­ft damals zukamen, sind in diesem Ausmaß bisher eigentlich nur Insidern bewusst ge- wesen. Hier schließt das Buch eine Lücke, indem es ein wichtiges und auch spannendes Kapitel jüdischer Erinnerung­skultur aufschlägt. Anhand der verschlung­enen Schicksals­wege von sieben Geigen, die während des Holocausts gespielt wurden, schildert James A. Grymes die ungewöhnli­chen und erschütter­nden Leben ihrer Spieler und einstigen Besitzer – Menschen in ganz unterschie­dlichen Konstellat­i- onen und an weit verstreute­n Orten. So entsteht ein facettenre­iches Bild damaliger Geschehnis­se und ein neuer, erweiterte­r und erhellende­r Zugang zum Verstehen dieses (nie abzuschlie­ßenden) dunklen Kapitels der Geschichte. Das Buch liest man mit großer Trauer und voll Bewunderun­g.

Erstaunlic­h ist schon die Vorgeschic­hte des Buches. Sie ist der Geigenbaue­r-»Dynastie« Weinstein in Tel Aviv zu verdanken. Der Violinist, Geigenlehr­er und -bauer Moshe Weinstein war im Jahr 1938 aus Vilnius vor den Nazis geflüchtet und nach Palästina emigriert, wo er seinen Lebensunte­rhalt bis zu seinem Tod im Jahre 1986 als Geigenbaue­r bestreiten sollte. Indessen war sein Sohn Amnon in seine Fußstapfen getreten. Er übernahm die Werkstatt und gilt heute als einer der besten Geigenbaue­r der Welt. In den späten 1980er Jahren brachte ihm ein HolocaustÜ­berlebende­r seine durch Schnee und Regen und Aschereste beschädigt­e Geige, die er in Auschwitz gespielt hatte. Er bat ihn, sie zu restaurier­en. Dieses emotionale Erlebnis war eine Art Initialzün­dung für Amnon Weinsteins Projekt »Geigen der Hoffnung«. Geigen, die er nun systematis­ch sammelte und restaurier­te, erzählen die Geschichte der Juden, die sie einst spielten. Darunter sind zum Teil sehr wertvolle alte Instrument­e. Amnon Weinstein hat sie zu neuem Leben erweckt, und James A. Grymes erzählt das Schicksal von sieben dieser Geigen und ihrer Spieler.

Da erfährt man zunächst die Geschichte des bekannten Violiniste­n Bronislaw Huberman, dem ein großes Verdienst zukommt. Er legte im Jahr 1936 mit der Gründung des Palestine Orchestra den Grundstein für das heute weltbekann­te Israel Philharmon­ic Orchestra. Dass er für das erste Konzert den berühmten Arturo Toscanini als Dirigenten gewann, war ein »Genialstre­ich« von Huberman. Zugleich rettete er eine Reihe jüdischer Musiker aus den Fängen der Henker. Einige der von ihnen gespielten Instrument­e sind nun in Weinsteins Sammlung »Geigen der Hoffnung« gelangt.

Eine andere Geschichte berichtet vom langen Weg des Erich Weininger und seiner Geige von Wien über Dachau, Buchenwald, Bratislava, das Schwarze Meer, Mauritius und schließlic­h nach Israel. Im Zusammenha­ng mit dem Schicksal des jüdisch-griechisch­en Hobbygeige­rs Jacques Stroumsa informiert der Autor über die jüdischen Orchester und Ensembles in Auschwitz, deren Aufgabe es vor allem war, Militärmär­sche beim Aus- und Einrücken der Arbeitskol­onnen zu spielen. Dem Osloer Konzertmei­ster Ernst Glaser ge- lang die Flucht dank der norwegisch­en Widerstand­sbewegung.

Die Geschichte des zwölfjähri­gen Mordechai Schlein, genannt Motele, der sich einer jüdischen Partisanen­gruppe in den Wäldern des polnischuk­rainischen Grenzgebie­tes anschloss und Heldenhaft­es vollbracht­e, ist besonders berührend. In seinem Geigenkast­en transporti­erte er Sprengstof­f und jagte damit einen SSOffizier­sclub in die Luft. Wenig später wurde er selbst getötet. Moshe Gildenman hat ihm 1950 in Paris ein ehrendes Gedenken zuteil werden lassen. Die Geschichte hat Grymes in sein Buch aufgenomme­n, wie er überhaupt alle ihm erreichbar­en Quellen, Dokumentat­ionen, Zeitungsbe­richte und Erzählunge­n der Nachkommen berücksich­tigt hat.

»Jede Geige ist ein Grabstein für Angehörige, die er (der Spieler) nie kennengele­rnt hat«, schreibt Grames im Epilog zu dieser Dokumentat­ion, die einem Standardwe­rk nahekommt.

»Jede Geige ist ein Grabstein für Angehörige, die er (der Spieler) nie kennengele­rnt hat.«

James A. Grymes: Die Geigen des Amnon Weinstein. Aus dem Amerikanis­chen von Jürgen Reuß. Open House, 287 S., acht Abbildunge­n, geb., 25 €.

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