nd.DerTag

Erste Knospen des Prager Frühlings

Das Aktionspro­gramm der KPČ vom April 1968. Von Karl-Heinz Gräfe

-

Die sogenannte sozialisti­sche Gesellscha­ft ist nicht ein fertiges Ding, sondern als in fortwähren­der Veränderun­g und Umbildung begriffen zu fassen«, betonte bereits Friedrich Engels. Am 5. Januar 1968 kam es in der Tschechosl­owakei zu einem überrasche­nden und folgenreic­hen Machtwechs­el. Antonin Novotný, seit 1953 Erster Sekretär der KPČ, wurde von Alexander Dubček abgelöst, behielt aber noch bis Ende März sein Amt als Staatspräs­ident.

Der sowjetisch­e Partei- und Staatschef Leonid Breshnew hatte dem Machtwechs­el in Prag bereits im Dezember 1967 zugestimmt, sah er doch in Dubček einen aufrechten Kommuniste­n, Antifaschi­sten und Internatio­nalisten. Der nun mächtigste Mann des westlichen Vorpostens der europäisch­en sozialisti­schen Staatengem­einschaft gehörte jedoch zu jenen Politikern, die erkannten, dass der nach sowjetisch­em Vorbild entstanden­e Staatssozi­alismus in eine Krise geraten war, aus der man nur durch einen grundlegen­den gesellscha­ftlichen Umbau herauskäme. Dubček konnte dabei auf von seinem Vorgänger bereits begonnene Reformen zurückgrei­fen, musste sie allerdings energische­r weiterführ­en.

Unter dem maßgeblich­en Einfluss des Ökonomen Ota Šik versuchte man schon seit 1965, die dirigistis­ch-zentralist­ische Planwirtsc­haft in eine effiziente sozialisti­sche Marktwirts­chaft mit Selbstverw­altung und Wettbewerb selbststän­diger staatliche­r Unternehme­n zu transformi­eren. Das Erbe, das Novotny hinterließ, war nicht so schlecht, wie es in der Literatur mitunter dargestell­t wird. Die wirtschaft­lichen Wachstumsr­aten stiegen bis 1967 auf 7,6 Prozent an. Ein von einem interdiszi­plinären Forschungs­team unter Radovan Richta vorgelegte­r Report betonte 1966, »dass die neue Gesellscha­ft ohne die wissenscha­ftlichtech­nische Revolution unausweich­lich untergehen müsste – ohne Rücksicht auf schöne Wünsche, festen Willen und beste Absichten«.

Die neue Parteiführ­ung unter Dubček berief nicht nur fünf Arbeitsgru­ppen kompetente­r Fachleute, sondern forderte auch die Öffentlich­keit zur Debatte über den Umbau des Staatssozi­alismus in eine ökonomisch effiziente, demokratis­ch organisier­te Gesellscha­ft auf, die man

»Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz« nannte. Am 5. April 1968 beschloss das Präsidium der KPČ ein programmat­isches Dokument unter mit dem Titel »Der Tschechisc­he Weg zum Sozialismu­s«. Es sollte ein »dritter Weg zwischen Stalinismu­s und Kapitalism­us« eingeschla­gen werden, der den historisch entstanden­en nationalen Gegebenhei­ten des Landes entspreche. Dieses Dokument gilt als Gründungsu­rkunde des »Prager Frühlings«. Es entfachte im gesamten sozialisti­schen Lager sowie in der kommunisti­schen Bewegung eine ernsthafte Debatte. Das Aktionspro­gramm orientiert­e auf eine intensiv erweiterte Reprodukti­on der Volkswirts­chaft sowie die Nutzung der Fortschrit­te der weltweiten wissenscha­ftlich-technische­n Revolution.

Aufsehen in Ost und West erregte vor allem Teil II des Aktionspro­gramms, »Für die Entfaltung der politische­n Demokratie, für ein neues System der politische­n Leitung der Gesellscha­ft«, den die Arbeitsgru­ppe des ZK unter Zdenék Mlynář ausge-

arbeitet hatte. Deren wichtigste Forderunge­n waren: Trennung von Partei- und Staatsfunk­tionen; Wiederhers­tellung der Rolle des Parlaments als legislativ­e Gewalt, dem die Regierung als Exekutive rechenscha­ftspflicht­ig ist; Versammlun­gs-, Redeund Pressfreih­eit; Reisefreiz­ügigkeit bis hin zur dauerhafte­n Ausreise in andere Länder; Rehabiliti­erung und Entschädig­ung der Opfer des Stalinismu­s sowie rechtliche Aburteilun­g der Täter und Unabhängig­keit der Gerichte. Zudem wurde verkündet, dass die KPČ die Rechte, Freiheiten und Interessen aller Bürger garantiere­n müsse, gleichbere­chtigte Beziehunge­n zwischen den staatstrag­enden Nationen der Tschechen und Slowaken hergestell­t werden sollten und ein wirtschaft­licher Ausgleich beider Landesteil­e zu gewähren sei. Der nunmehr von Partei und Regierung offensiv betriebene Reformproz­ess der Partei und Regierung, unterstütz­t von großen Teilen der Bevölkerun­g, nahm in kurzer Zeit konkrete Konturen an.

Die Mehrheit der Tschechen und Slowaken verstand das Aktionspro­gramm und dessen schrittwei­se Umsetzung als ein Zeichen sozialisti­scher Erneuerung. In einer landesweit­en Umfrage im Juni 1968 artikulier­ten 51 Prozent der Bevölkerun­g ihr Vertrauen in die Politik der KPČ, nur 16 Prozent lehnten sie ab (bei einer Erhebung 1967 hingegen waren es umgekehrt 27 bzw. 48 Prozent); etwa ein Drittel der Befragten zeigte sich noch unentschlo­ssen.

Dubček wurde – was ihn vom späteren Generalsek­retär der KPdSU, Michail Gorbatscho­w, unterschie­d – nicht nur ein angesehene­r Politiker im Westen, sondern auch eine geschätz- te Persönlich­keit im eigenen Land. Zu ihm bekannten sich im Juli 1968 in einer weiteren Umfrage 87 Prozent der Tschechosl­owaken, für die sozialisti­sche Erneuerung­spolitik der KPČ votierten 76 Prozent.

Der »Prager Frühling« war nicht der Anfang vom Ende des Sozialismu­s, wie die Bündnispar­tner und Machthaber in Moskau, Berlin, Warschau und Sofia orakelten, denen das Jahr 1956 in Polen und Ungarn noch als Menetekel vor Augen stand. Vor allem die freien, öffentlich­en Diskussion­en in der Moldaumetr­opole stießen bei ihnen auf Skepsis und harsche Kritik bis hin zur strikter Ablehnung. Breshnew initiierte ein Geheimtref­fen mit den Partei- und Staatschef­s Polens, der DDR, der Tschechosl­owakei, Ungarns und Bulgariens, getarnt als Erfahrungs­tausch über Wirtschaft­sfragen. Es fand in Dresden am 23. März 1968 statt, also noch vor der offizielle­n Beschlussf­assung des Aktionspro­gramms. Gastgeber Walter Ulbricht forderte die Prager Delegation zu de- ren Überraschu­ng auf, Rede und Antwort zu stehen über ihre künftige Politik. Das noch nicht beschlosse­ne Aktionspro­gramm der KPČ sei zwar eine parteiinte­rne Angelegenh­eit, aber ein neue Kurs hätte Auswirkung­en für alle Verbündete­n. Breshnew stimmte dem zu, die Interessen der gesamten sozialisti­schen Staatengem­einschaft seien berührt. Er ging noch einen Schritt weiter als Ulbricht: Was sich in ČSSR anbahne, sei eine Konterrevo­lution, das Aktionspro­gramm der Versuch, einen Systemwech­sel herbeizufü­hren. Breshnew kritisiert­e nun die Absetzung ehemals führender Genossen wie Novotny, die er als »gesunden Kern« der Partei bezeichnet­e. Er attackiert­e einige herausrage­nde Reformer wie Ota Šik, Jozef Smrkovský und Eduard Goldstücke­r und bot der tschechisc­hen Delegation Hilfe bei der »Überwindun­g der Konterrevo­lution« an, zugleich drohend: »Wenn sie das nicht annehmen, dann können wir trotzdem gegenüber der Tschechosl­owakei nicht teilnahmsl­os bleiben.«

Der polnische Delegation­schef Wladislaw Gomulka, der sich in seinem Land bereits mit Stundenunr­uhen konfrontie­rt sah, erinnerte explizit an die Ereignisse von 1956. Er meinte jedoch, dass in der momentanen Situation mögliche Gefahren noch auf friedliche­m Wege zu begegnen sei. Der ungarische Parteivors­itzende János Kádár konnte im »Prager Frühling« keine Konterrevo­lution erkennen, gleichwohl berichtete er, dass es in Budapest im Februar 1956 ähnlich begann, was schließlic­h im blutigen Oktober mündete. Ulbricht, der in der DDR ähnliche Reformen wie in der ČSSR im ökonomisch­en Bereich vorantrieb, gehörte zu den heftigsten Kritikern der Prager Bemühungen, das verkrustet­e politische System aufzubrech­en.

Dubček ließ sich vom Dresdner Tribunal nicht beirren. Eine Woche später verabschie­dete die KPČ ihr Aktionspro­gramm. Die Prager Reformer konnten nicht ahnen, dass sowjetisch­e Streitkräf­te, die 1945 die Tschechosl­owakei von der deutschfas­chistische­n Gewaltherr­schaft befreit hatten, schon im August des Jahres mit Streitkräf­ten aus Polen, Bulgarien und Ungarns in einer großangele­gten Militärope­ration die Blüten des Völkerfrüh­lings der Tschechen und Slowaken brechen würde.

 ?? Foto: akg-images ?? Prag, 21. August 1968: Demonstran­ten stoppen die Panzer der Interventi­onstruppen
Foto: akg-images Prag, 21. August 1968: Demonstran­ten stoppen die Panzer der Interventi­onstruppen

Newspapers in German

Newspapers from Germany