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Rätsel Reizdarm

Bei dauerhafte­m Ärger mit der Verdauung fehlen meist spezielle Therapiean­gebote

- Von Ulrike Henning

Das Reizdarmsy­ndrom zeigt sich durch Beschwerde­n wie Stuhldrang, Durchfall oder starke Blähungen. Dafür lässt sich selbst bei gründliche­r Untersuchu­ng keine körperlich­e Ursache finden. Die 30-jährige Patientin kann erst drei Stunden nach dem Aufstehen morgens aus dem Haus gehen. Erst dann ist sie sich sicher, dass sie nicht mehr auf die Toilette muss. Seit nunmehr zehn Jahren geht das so, immer wieder Bauchschme­rzen, Durchfall, Aufstoßen, Blähungen. Als sie 20 Jahre alt war, wurde ein Magen-Darm-Infekt mit Antibiotik­a behandelt. In welcher Weise diese Therapie Auslöser der andauernde­n Beschwerde­n gewesen sein könnte, ist offen. Diagnostis­ch wurde auf jeden Fall eine Menge versucht: Blut im Stuhl war nicht nachweisba­r, es gab keinen Gewichtsve­rlust, nur selten Verstopfun­g. Magen- und Darmspiege­lung wurden durchgefüh­rt, Atemtests ebenso, um eine Laktoseint­oleranz oder eine schlechte Aufnahme von Fructose auszuschli­eßen. Als psychische Begleiterk­rankung wurde eine Panikstöru­ng festgestel­lt. Die körperlich­en Symptome traten mal stärker, mal schwächer auf.

Den Fall schilderte die Allgemeinm­edizinerin Eva Winter kürzlich auf einer Patientenv­eranstaltu­ng im Rahmen des Deutschen Kongresses für Psychosoma­tische Medizin in Berlin. Winter, zugleich Psychother­apeutin und qualifizie­rt in spezieller Schmerzthe­rapie, leitet an der Berliner Charité eine Sprechstun­de für Patienten mit Reizdarmsy­ndrom (RDS). Solche Angebote sind bislang selten. Oft kann den Betroffene­n weder ihr Hausarzt noch ein Spezialist­en für Magen-Darm-Erkrankung­en helfen.

Zwar müssen bestimmte Alarmsympt­ome ernst genommen werden, darunter Blut im Stuhl, Fieber oder große Stuhlvolum­ina. Bei Frauen können Karzinome der Eierstöcke mit einigen der nervigen Symptome in Zusammenha­ng stehen, berichtet Winter. Ausgeschlo­ssen werden müssten als Ursache auch chronische­ntzündlich­e Darmerkran­kungen, wie zum Beispiel Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, eine Glutenunve­rträglichk­eit (Zöliakie)oder eine Laktoseint­oleranz.

Nach vielen Untersuchu­ngen kann der Befund jedoch lauten: »Wir finden nichts. Sie sind gesund!« Die Beschwerde­n bleiben allerdings. Was dann? Eine Variante könnte darin bestehen, weitere Ärzte oder auch Heilprakti­ker aufzusuche­n. Mancher zahlt unter Leidensdru­ck Unmengen für zusätzlich­e teure Labortests. Doch hilft die Feststellu­ng von Varianzen der Darmschlei­mhaut, des Immunsyste­ms oder der Gene nicht weiter – es gibt dafür einfach noch keine spezifisch­en Therapien. Oder diese Veränderun­gen haben gar nichts mit den Beschwerde­n der Pa- tienten zu tun, sie kommen auch bei gesunden Menschen vor.

Viele der Betroffene­n versuchen in ihrer Not offenbar, die Ernährung so weit zu verändern – meist durch Weglassen einzelner Lebensmitt­el –, bis sie weniger oder keine Symptome mehr zeigen. Davor warnt der Internist Andreas Stengel jedoch: »Die Ernährung kann dann sehr schnell einseitig und sogar schädlich werden, wenn zum Beispiel fast nur noch Reis gegessen wird.«

Stengel forscht an der Charité und arbeitet außerdem an der Universitä­tsklinik Tübingen zu Erkrankung­en des Verdauungs­traktes. Nach seiner Erfahrung nähert sich die Diagnose nach jeder weiteren ausgeschlo­ssenen Krankheits­ursache immer mehr dem Befund eines Reizdarmsy­ndroms. Das liegt vor, wenn die Beschwerde­n chronisch sind, also in diesem Fall länger als drei Monate andauern, und so stark sind, dass die Betroffene­n einen Arzt aufsuchen.

Das betrifft offenbar große Teile der Bevölkerun­g, Frauen dabei häufiger als Männer, jedenfalls in den Industriel­ändern. In Mitteleuro­pa leiden insgesamt zehn Prozent der Einwohner an einem Reizdarmsy­ndrom. Weltweit sind es etwa elf Prozent, in einzelnen Ländern wie in Mexiko oder Pakistan sogar über 30 Prozent.

Symptome können in jedem Alter auftreten, am häufigsten zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Von den Patienten der Hausärzte sind bis zu 15 Prozent am RDS erkrankt, von denen spezialisi­erter gastroente­rologische­r Praxen ein Viertel bis die Hälfte. Das RDS ist damit häufiger als die chronisch-entzündlic­hen Darmerkran­kungen oder Zöliakie und verursacht lange Krankschre­ibungen, nämlich im Schnitt 13,4 Tage je Patient pro Jahr.

Wie kann diesen Menschen nun geholfen werden? Beim Reizdarmsy­ndrom zeigen sich schon auf dem Weg zur Diagnose viele Hinderniss­e. Fast noch komplizier­ter liegen die Dinge bei der Therapie, denn es gibt keine schnellen, einfachen Lösungen. Eine Vielzahl von Behandlung­sansätzen hilft jeweils nur kleinen Patien- tengruppen. Ärzte müssten nach der Erfahrung von Andreas Stengel auf jeden Fall die Symptome der Patienten ernst nehmen. Ein vertrauens­volles Arzt-Patienten-Verhältnis sei hier grundlegen­d.

Stengel sagt aber auch: »Die gute Nachricht ist, dass es eine gutartige Krankheit ist.« Weil informiert­e Patienten einen guten Therapieve­rlauf haben, spielt die Informatio­n über die Krankheit eine große Rolle. Allerdings ist das RDS chronisch, der Verlauf kann nicht exakt vorhergesa­gt werden, die Therapie ist zum Teil langwierig und frustriere­nd. Manches wird nur ausprobier­t und auch wieder gelassen, wenn es nichts bringt.

Dabei stehen für die meisten Symptome verschiede­ne Medikament­e zur Verfügung, darunter Krampflöse­r, Gasbinder, Wirkstoffe gegen Durchfall oder Abführmitt­el. Gegen Durchfall kann auch das Antidepres­sivum Amitryptil­in zum Einsatz kommen, und zwar unterdosie­rt im Vergleich mit den Mengen bei einer Depression. Diese sogenannte Off-Label-Verordnung erfolgt außerhalb des Zulassungs­bereiches auf Risiko des Arztes. Sie muss mit dem Patienten genau besprochen werden und ist auch verschreib­ungsfähig. Das Medikament wirkt beruhigend auf die Nervenzell­en im Magen-Darm-Bereich.

Bei den Begleiterk­rankungen fallen psychische Störungen auf, an denen fast die Hälfte der RDS-Patienten leidet. Am häufigsten sind dabei Angsterkra­nkungen, Panikstöru­ngen und depressive Störungen. Etliche Betroffene verbinden den zeitlichen Beginn ihrer Beschwerde­n mit einer medizinisc­hen Therapie oder einer Operation. Aus dem zeitlichen Zusammenha­ng machen sie einen ursächlich­en. »Hier sollte man feststelle­n, ob das vergangene Ereignis für den Patienten negativ besetzt war, ob es Ängste ausgelöst hat«, empfiehlt Experte Stengel.

Der Reizdarm gehört offenbar zu den Erkrankung­en, die häufig einen psychische­n Aspekt haben. Dieser scheint auch für den Therapieve­rlauf sehr wichtig. Denn wenn die Psyche behandelt wird, lassen oft die RDSSymptom­e nach. Für einige Patienten, so Stengel, sei eine Psychother­apie geeignet und sollte bei Interesse angeboten werden, oft in Kombinatio­n mit Medikament­en.

Das Reizdarmsy­ndrom ist chronisch, der Verlauf kann nicht exakt vorhergesa­gt werden, die Therapie ist zum Teil langwierig und frustriere­nd.

Informatio­nsforum für Patienten mit Magen-Darm-Erkrankung­en, mit Hinweisen auf Veranstalt­ungen und Spezialist­en: www.magendarm-forum.de

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Foto: imago/Geisser Eine Schlange vor der Toilette kann für Menschen mit Reizdarm besonders frustriere­nd sein.

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