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Eine Stadt voller Zwangsarbe­iter

Chemnitzer Gedenktafe­l erinnert an Ausbeutung ausländisc­her Arbeitskrä­fte in der NS-Zeit

- Von Hendrik Lasch, Chemnitz

Das sächsische Chemnitz war in der NS-Zeit wichtiger Standort der Rüstungspr­oduktion. Ohne KZ-Häftlinge und Zwangsarbe­iter war diese nicht aufrecht zu erhalten. Endlich erinnert eine Gedenktafe­l daran. Als die Astra Werke AG im Jahr 1921 in Chemnitz gegründet wurden, ging es um Datenverar­beitung: In dem Betrieb sollte eine Rechenmasc­hine mit Zehnertast­atur entwickelt werden. Im Industriem­useum in Chemnitz wird heute daran erinnert, dass das Vorhaben von Erfolg gekrönt war: Zu sehen sind einige der Geräte, die gebaut und 1933 auf der Internatio­nalen Büromaschi­nenausstel­lung Berlin stolz präsentier­t wurden.

Nicht erinnert wurde in Chemnitz bisher an ein anderes Kapitel aus der Geschichte der Astra Werke – eines aus einer Zeit, als Buchungsma­schinen für die zivile Nutzung dort kaum noch oder gar nicht mehr hergestell­t wurden. Bis September 1943 wurde die Produktion – wie in vielen anderen Betrieben – komplett auf Rüstungsgü­ter umgestellt. Gefertigt wurden Technik für Lenkrakete­n, Rechengerä­te für die Flugabwehr und, in einem Zweigwerk, monatlich 75 000 Gewehre und Karabiner für die Wehrmacht. Es war ein lukratives Geschäft: 1943 erwirtscha­fteten die Astra Werke, die im Mai des Folgejahre­s als NS-Musterbetr­ieb ausgezeich­net wurden, einen Gewinn von 783 900 Reichsmark. Möglich wurde das nur durch massive Ausbeutung auslän- discher Arbeitskrä­fte: überwiegen­d zwangsverp­flichtete Beschäftig­te zunächst aus West-, später aus Osteuropa, Kriegsgefa­ngene, KZ-Häftlinge. Allein 510 Frauen und Mädchen aus dem Konzentrat­ionslager Flossenbür­g waren in ein Außenlager verlegt worden, das im 5. Stock des Werksgebäu­des in der Altchemnit­zer Straße 51 eingericht­et wurde. Sie schufteten unter ständigen Strafandro­hungen, bei kärglichst­er Verpflegun­g und in strenger Isolation. »Deutsche! Wahrt inneren und äußeren Abstand zu Fremdvölki­schen!«, mahnten Aushänge im Betrieb. Vor 73 Jahren, in der Nacht vom 12. auf den 13. April, wurden die KZHäftling­e nach Böhmen verlegt, um Platz zu machen für 700 Jüdinnen auf dem Todesmarsc­h.

Der Jahrestag ist jetzt Anlass, um erstmals in Chemnitz an das dunkle Kapitel örtlicher Industrieg­eschichte zu erinnern. Am ehemaligen Fabrikgebä­ude, in dem heute die Landesdire­ktion Sachsen ihren Sitz hat, wird eine Gedenktafe­l angebracht. Zum Festakt werden neben der Vizepräsid­entin des sächsische­n Landtags auch Diplomaten aus Polen und Weißrussla­nd erwartet.

Die Initiative zur Anbringung der Tafel ging von der Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s VVN aus; finanziert wurde sie aus Spenden. Der Weg war nicht ganz leicht; Beteiligte berichten von langwierig­en Debatten mit der zunächst um Unterstütz­ung gebetenen sächsische­n Gedenkstät­tenstiftun­g um die Verwendung des Begriffs »Faschismus«. Auch das Rat- haus sei um Unterstütz­ung gebeten worden – »leider steht diese bis heute aus«, schrieb die VVN im Februar in einem Brief an mehrere Fraktionen im Stadtrat. Mancher in Chemnitz vermutet einen Zusammenha­ng zu einem kürzlichen Streit um eine andere Gedenktafe­l. Die Rotarier hatten eine Ehrung von Carl Hahn angeregt, hochrangig­er Manager der einstigen Auto-Union. SPD-Oberbürger­meisterin Barbara Ludwig hatte das zunächst unterstütz­t. Dann war die Rolle der Auto-Union und von Hahn in der NS-Rüstungswi­rtschaft thematisie­rt worden. Auch bei der Auto Union wurden ausländisc­he Arbeitskrä­fte in großer Zahl ausgebeute­t. Ludwig rückte öffentlich vom zunächst Geehrten ab; am Ende wurde die Tafel entfernt.

Nun werden statt eines Mittäters die Opfer geehrt – von denen es weit mehr gab als die bei Astra und AutoUnion Geschunden­en. Das verdeutlic­ht eine Ausstellun­g, die von der Arbeitsgru­ppe »Historisch­er Atlas 1933 bis 1945« erarbeitet wurde. Sie wird im Foyer der Landesdire­ktion gezeigt und weitet den Blick: In Sachsen, heißt es dort, stellten ausländisc­he Arbeitskrä­fte gegen Ende des Krieges ein Achtel der Beschäftig­ten. In 40 Rüstungsbe­trieben in Chemnitz waren 38 000 Zwangsarbe­iter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefa­ngene eingesetzt; sie waren in 130 Lagern im Stadtgebie­t sowie weiteren im Umland untergebra­cht. Die Ausbeutung war allgegenwä­rtig. Das später einsetzend­e Vergessen wird dank der Gedenktafe­l jetzt beendet.

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Quelle: VVN Chemnitz Die Astra Werke Chemnitz auf einer Karte aus den 1930er Jahren

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