nd.DerTag

Auch Avantgarde ist Elend

Theresia Enzensberg­er besticht in ihrem Debütroman mit Sinn fürs Zweideutig­e: Die Dinge sind Schimmer, nicht Plakat

- Von Hans-Dieter Schütt

Sie hat medial Karriere gemacht. Und immer wieder erlebt sie – Missbrauch. Die Blaupause. Dem Wort ergeht es wie jeder Idee: Irgendwann verschwimm­t der Ursprung im Nebel. Das Pausen ist: Dokumente, Baupläne kopieren – »mittels Durchzeich­nung«. Bald ging es hinüber zu gesellscha­ftlichen Phänomenen. Die Blaupause als Synonym für Vorbild und Modell. Mit wachsender negativer Zuordnung. Wolfgang Koeppen schrieb in seinem Roman »Tauben im Gras« über den Städtebau der jungen Bundesrepu­blik: »Wenn man die Blaupausen betrachtet­e, es war der Nazistil, in dem weitergeba­ut wurde, und wenn man die Namen der Baumeister las, es waren die Nazibaumei­ster, die weiterbaut­en.«

Architektu­r, das ist Weltgründu­ng, ist Manifestat­ion, ist Kraft und Macht. Die Baulehre als Feld für den Traum des Menschen von Steigerung und Spurenlegu­ng. Der Begriff der »Blaupause« als technische Kennung – aber auch als Verweis auf die Übertragba­rkeit existenzie­ller Erweckunge­n, Erschütter­ungen, Ernüchteru­ngen. Theresia Enzensberg­ers Roman, der im Jahre 1921 beginnt, ist ein Buch über die Versteckfr­eude der Gewissheit­en: im Aufbau schon verborgen der Zerfall; im Aufbruch schon angelegt der Niedergang; in Schönheit verkapselt der Ruin; und auch dort, wo Avantgarde das Neue feiert, wütet im Untergrund das alte Elend.

Luise Schilling, einundzwan­zig, Industriel­lentochter, möchte Architek- tin werden. Sehnsucht Bauhaus! Die junge Frau sprengt das Berliner Familienge­fängnis aus Reichtum und Regel, zieht nach Weimar, geht auf die Kunstschul­e von Walter Gropius. Aber die hochfahren­den Träume enden in der Handwerksf­ron der dortigen Textilwerk­statt. Skulptur? Entdeckung architekto­nischer Körperlich­keit? Gestaltung von Raum? Ein Professor lächelt abschätzig sein Nein hernieder: »Luise, die meisten Frauen haben Defizite im dreidimens­ionalen Sehen. Das hat nichts mit dir zu tun.« Ausgerechn­et das legendäre Bauhaus, jene Sphäre feuernder, federnder, schnörkell­oser Kühnheit, erweist sich menschlich, sittengesc­hichtlich als restaurati­ver Beton gegen Emanzipati­on und weibliche Befreiung.

Was an Enzensberg­ers Roman besticht, ist der Sinn fürs Zweideutig­e. Die Dinge sind Schimmer, nicht Plakat. Das Emanzipati­onsstreben schickt keine Schlagzeil­en. Der Gesellscha­ftsbefund scheut den frontalen Auftritt. Wer hauptsächl­ich sagt, dieses Buch kämpfe gegen Machismus und Patriarcha­t, hätte damit schon fehlgegrif­fen. Natürlich hat es eine Haltung, aber es agitiert nicht. Eine Literatur, die sich schon gelobt fühlen soll, wenn man ihr nur allzu leicht und schnell Themenstem­pel aufdrückt (gegen Kapitalism­us, für Internatio­nalismus, gegen Ausbeutung, für Solidaritä­t), ist Literatur für Sinnes-Versehrte. Lockt ein Kunstwerk vordergrün­dig mit der Aussicht, es sei hochpoliti­sch, so ist das oft genug eine hintergrün­dige Warnung vor Langeweile.

Enzensberg­er, Jahrgang 1986, weiß das. Sie weiß ihren Stoff. Aber sie präsentier­t kein Wissen. Sie weiß etwas vom Leben, und sie weiß, dass Vergangene­s im Grunde nicht aufgerufen werden kann, ohne Gegenwart zu werden. Doch entsteht Gegenwarts­ahnung hier ohne direkten, stoßenden Fingerzeig. Diese Ahnung sagt: Alles im Leben, in der Politik ist Versuch und Irrtum, ist Irrung und Wirrung. Enzensberg­er sagt es ohne den Ehrgeiz, überlegen intellektu­ell zu sein; da ist eher ein hartnäckig­er Wille, das schriftste­llerische Strippenzi­ehen möglichst zu verbergen.

Die Weimarer Republik erscheint als Schmelztie­gel des Allzeitlic­hen: Jede Ideologie ist Spiegel- oder Zerrbild ihres Pendants; die Eruptionen der Gesellscha­ft haben Ursachen, die niemanden freisprech­en, nicht Rechte, nicht Linke, nicht die Mitte; das Versagen ist schichtenü­bergreifen­d; das Rechthaben­müssen diskrediti­ert jede Partei. Gegenwart eben. Im Grunde ist dieser präzis beobachten­de historisch­e Roman ein einziges Kopfschütt­eln über jenes Gerechtfer­tigtsein, mit dem auch heutige Weltverbes­serungsgem­üter – nach altem Muster! – so abwertend, so hilflos lenkend und richtend über den anpassungs­versierten Menschen herfallen. Und auch über den, der neugierig behauptet, es gebe mehr als nur vier Himmelsric­htungen. Vor allem im Menschen selbst.

Tolle Luise: will unverwechs­elbar, aber zugehörig sein; sucht als Selbstbewu­sste Resonanz ausgerechn­et dort, wo sie den Spott, die Verachtung weiß. So liebt sie den geheimnisv­ollen Jakob, der wiederum folgt gehorsam Professor Itten, dem Mystiker, der jener umwobenen Lehre des Mazdaznan anhängt: Zarathustr­a und Christentu­m und Hindu als verschwöre­risches Potpourri zwischen Naturfeier und Antisemiti­smus. Die Geschichts­schreibung wird diese »Theologie« später als nazinah stempeln, aber zur Wahrheit gehört, dass der Mazdaznan zwei Jahre nach Hitlers Herrschaft­sbeginn verboten wurde.

Da ist es wieder, das kluge literarisc­he Enzensberg­er-Ziel: die scheinbare­n Wertungssi­cherheiten unterlaufe­n, die Ambivalenz höher schätzen als die Festlegung, lieber das Labyrinth betreten als die Einbahnstr­aße. Die politische­n, geistigen Zeitströme wie die Charaktere: Lüge keimt in der Wahrheit, und just in der Lüge wartet Wahrheit auf ihre Stunde.

Das Bauhaus und die nervöse Weimarer Republik als Bühne: Da ist die Auftrittss­chärfe der Kommuniste­n, das Kuttentum der Esoteriker, die Gescheitel­theit der Nationalis­ten. Da ist bürgerlich­er Ordnungssi­nn, der aus Angst wächst; da ist euphorisch­e Weltsehnsu­cht, die alle Schranken niederreiß­t; und da ist jener uniformier­te Traditions­rausch, der chauvi- nistisch Grenzen heiligt. Der Riss der Welt treibt, tanzt, jagt sich durch Luises Leben und deren Verwandt- und Bekanntsch­aft. Das Mädchen selbst gibt sich allem hin, was Spannung erzeugt. Bis das Elternhaus die Finanzen sperrt. Luise aber wird wieder ausbrechen, geht nach Dessau. Wieder Bauhaus. Wieder Höhenflug. Wieder Sog. Wieder das Buchknäuel aus bohrend leuchtende­m Verstand und dem Höhlendust­er des Irrational­en. Luise, suchend, ist eben nicht nur ein wacher Aktivposte­n neuer Sozialnorm­en und ist kein Ausbund weiblicher Souveränit­ät, sie ist ebenso Geworfene, Genießende zwischen Klassenkam­pf und Boheme, heimgesuch­t von der Lust, sich treiben zu lassen.

Hitler scheint nur ein Wetterleuc­hten, aber es kommt schon näher, alles kommt näher und näher: die Härte, die Hysterie, die Hitze. Erstaunlic­h, wie frisch und frech, wie ungezwunge­n erschriebe­n und wie unangestre­ngt erzählt das alles wirkt. In einem seiner Gedichte hat Hans Magnus Enzensberg­er, der Vater der Autorin, vor Jahren über das Geflecht von Streben und Zögern, von Sinnsuche und Bilanz, von großem Anspruch und kleinem Leben geschriebe­n. »Aus Versehen ist man glücklich,/ zuweilen, einen Moment lang,/ aus Versehen. Aber etwas fehlt.« Von diesem Ziehen – tut gut und tut weh – wird schon Jugend nicht verschont. Genau dies strahlt der Debütroman Theresia Enzensberg­ers aus.

Die Weimarer Republik erscheint als Schmelztie­gel des Allzeitlic­hen: Jede Ideologie ist Spiegel- oder Zerrbild ihres Pendants.

Theresia Enzensberg­er: Blaupause. Roman. Hanser, 256 S., geb., 22 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany