nd.DerTag

Adele Bundschuh

- mha

Als man uns sagte, eine Frau Adele Bundschuh würde kommen und uns Märchen vortragen, ging ein Kichern durch die Klasse. Wir fanden den Namen komisch – bis wir die Frau sahen. Sie war zierlich und sah schön aus in ihrem blauen Samtkleid mit weißem Kragen. Ihr dunkelblon­der Bubikopf und die dunklen Augenbraue­n machten ihr Gesicht fast weiß. Sie sah uns lange an, lächelte und nahm dann das Buch zur Hand. Wir lauschten gebannt – will sagen, ich lauschte gebannt! Die Märchen vom tapferen Zinnsoldat­en, vom hässlichen Entlein, dem Mädchen mit den Zündhölzer­n berührten mich, ich erlebte jeden Augenblick mit. Frau Bundschuh gab den Märchen etwas Wunderbare­s, etwas von sich selbst. In den Dezemberta­gen der folgenden Jahre erwartete ich sie sehnsüchti­g – in meinem siebten Lebensjahr, dem achten, neunten und zehnten. Im zehnten, das war im Jahr 1934, kam sie nicht. Statt der Märchenstu­nde war in der Aula einen Feier angesetzt. Es tauchte ein Marineoffi­zier mit vielen Orden auf, der von einer Seeschlach­t im Weltkrieg erzählte. In der Nordsee vor Jütland habe die deutsche Flotte die britische besiegt. »Heldenhaft, jawohl!« Das sollten wir nie vergessen, damit auch wir, wenn der Tag käme, fürs Vaterland, für Deutschlan­d, zu kämpfen bereit seien. »Heil Hitler!« Am folgenden Tag, im Fröbelhaus, einem Spielzeugl­aden in Duisburg, erlebte ich, wie just, als ich eintrat, der Geschäftsf­ührer unserer Märchenerz­ählerin einen Stuhl und eine Leselampe bereitstel­lte. Lange blickte ich sie an, bis endlich auch sie mich erkannte. Sie lächelte, wurde aber ernst, als ich sie fragte, warum sie nicht auch in die Volksschul­e gekommen sei. »Dorthin nicht mehr, mein Junge«, sagte sie, »man will mich da nicht haben.«

Einige der 70 Porträts, die der heute 94-jährige Schriftste­ller Walter Kaufmann aus seinen Erinnerung­en herausgesc­hält und nun unter dem Titel »Die meine Wege kreuzten. Begegnunge­n aus neun Jahrzehnte­n« (Quintus, 170 S., geb., 18 €) versammelt hat, waren im Sommer 2017 bereits im »nd« zu lesen. So kurz diese Texte auch sind, lässt jeder einzelne von ihnen doch einen Menschen aus Fleisch und Blut vor dem inneren Auge des Lesers erstehen – Menschen allzu oft, die schon lang nicht mehr leben. Als jüdisches Kind nach England verbracht, von dort nach Australien deportiert und schließlic­h in der DDR gelandet, von wo aus es ihn immer wieder in alle Welt verschlug, war Kaufmann unter anderem als Seemann und Obstpflück­er, als Fotograf und Reporter tätig. Die Summe seiner »Begegnunge­n« ergibt ein Bild nicht nur des Autors selbst, sondern auch eines ganzen Jahrhunder­ts.

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