nd.DerTag

Baukasten-Familie

Julia Jessen über die Krise bürgerlich­en Lebens

- Von Björn Hayer

Alles beginnt mit einer Stadt, die frisch im Entstehen ist; einer Stadt, erbaut von zwei Jungs mit Legosteine­n und Playmobil. Sie sprechen kein Wort miteinande­r, offenbar wissen sie ganz genau, wie die Gesamtarch­itektur am Ende aussehen soll. Und während die beiden so vertieft in ihr Projekt sind, steht deren Mutter, die Ich-Erzählerin in Julia Jessens luzidem Beziehungs­roman, an der Tür des Kinderzimm­ers und beobachtet das Treiben aus der Vogelpersp­ektive.

Dass dieses episch geschilder­te kindliche Spiel vor allem eine metaphoris­che Qualität besitzt, wird schon bald klar. Denn auch Yvonnes Leben erscheint wie aus dem Baukasten zusammenge­setzt: Mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann kann sie sich eigentlich in der Zufriedenh­eit eines gut situierten, bürgerlich­en Daseins wähnen; beide haben sie einen Job, einen großen Freundeskr­eis. Und doch fehlt der Bilderbuch­perfektion ein inneres Zentrum zum Glück, ein Sternenleu­chten inmitten der Eintönigke­it des Alltags. Der Ausbruch lässt, wenig erstaunlic­h, nicht lange auf sich warten. Nachdem die Protagonis­tin einen One-Night-Stand mit einem fremden Mann gewagt hat und ihrem Mann davon erzählt, bricht die Fassade ihrer heilen Welt schließlic­h zusammen.

Fortan konstruier­t die Autorin einen filigran verästelte­n Bewusstsei­nsroman. Wir tauchen in Yvonnes Selbstzwei­fel ein, werden einer mit sich hadernden Frau im freien Fall gewahr, einer Frau, die das Reich der Gewohnheit zwischen Osterund Weihnachts­fest, Schule und Beruf gegen jenes des Chaos eintauscht. »Die Anstrengun­g, die Gedanken in meinem Kopf an die Leine zu nehmen, sie davon abzuhalten, durcheinan­derzurenne­n, orientieru­ngslos in den Trümmern meiner eingestürz­ten Lebensplan­ung nach lebensfähi­gen Antworten zu suchen, kostet mich viel Kraft«, so Yvonne, die am Ende einen Weg in eine eigenständ­ige Existenz einschlage­n wird.

Man könnte dieses Werk sicherlich als Zeugnis einer weiblichen Emanzipati­onsgeschic­hte sehen. Aber dahinter äußert sich eine sehr grundsätzl­iche Linie, wie sie sich in den letzten Jahren vermehrt durch Bücher der mittleren Generation zieht. Man denke an »Die Glückliche­n« (2016) von Kristine Bilkau, geboren wie Jessen 1974, man denke an Anna Katharina Hahns »Kürzere Tage« (2009) oder überhaupt an fast alle Werke von Judith Hermann. Jenen literarisc­hen Milieustud­ien wohnt nicht nur ein spezifisch­er, oftmals lakonisch-nachdenkli­cher Sound einer sich selbst suchenden und findenden Schriftste­llerinneng­eneration inne, sondern ebenso die tief greifende Auseinan- dersetzung mit der Spätmodern­e. Der Multioptio­nalismus an Konsumgüte­rn wie auch Lebens-, Arbeits-, Beziehungs- und Wohnmodell­en stellt nicht nur einen Zuwachs an individuel­ler Freiheit her, sondern führt den Einzelnen auch an die Grenzen seiner Entscheidu­ngsfähigke­it. Ohne Kompass droht die völlige Überforder­ung, welche die Protagonis­tin in einen endlosen Reflexions­zirkel versetzt.

»Die Architektu­r des Knotens« bietet keine Lösungen, dafür aber eine dichte Beschreibu­ng einer epochalen Gefühlslag­e. Jessens Kunst besteht dabei gerade in der virtuosen Strategie, mit einer zarten Sprache Yvonnes Schicksal einerseits als einzigarti­g zu präsentier­en und anderersei­ts die Konturen eines allgemeine­n Gesellscha­ftsporträt­s zu zeichnen. Entstanden ist eine von Präzisions­kraft und Welthaltig­keit gleicherma­ßen bestimmte Prosa. Von dieser Romanautor­in dürfen wir weiterhin sicherlich Großes erwarten.

Julia Jessen: Die Architektu­r des Knotens. Roman. Kunstmann, 430 S., geb., 24 €.

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