nd.DerTag

FKK kann mich nicht schockiere­n

Sexuelle Freiheit und Selbstbest­immung kannte die Autorin schon aus Iran. Fremd war ihr dagegen die deutsche Art zu schenken

- Von Negin Behkam Der Artikel wurde zuerst auf Arabisch bei Amal Berlin veröffentl­icht. Media Residents übersetzte ihn ins Deutsche.

Kulturelle Irritation­en kann es auf viele Arten geben. Nicht immer muss es um die nackte Haut am Strand gehen.

»Das war für dich bestimmt ein Kulturscho­ck, oder?« Diese Frage habe ich mehrfach gehört, seit ich in Deutschlan­d lebe. Die Menschen erwarteten, dass ich nicht damit zurecht gekommen bin, als ich zum ersten Mal sah, wie zwei Menschen sich küssten, oder als ich zwei Homosexuel­len begegnete, die kuschelten. Oder sie denken, dass ich schockiert war, als ich zufällig bei einem FKK- Strand mit nackten Menschen landete. Sie dachten, dass ich eingeschüc­htert davongelau­fen bin. Aber nein, keine dieser Situatione­n war ein Kulturscho­ck für mich.

Sie haben bestimmt gehört, dass Iraner*innen für das Austausche­n von Geschenken bekannt sind. Auch diplomatis­che Beziehunge­n bleiben davon nicht unberührt. So bringt eine iranische Reisegrupp­e selbst einer Regierung, mit der keine engen diplomatis­chen Beziehunge­n bestehen, exquisite Teppiche oder archäologi­sch wertvolle Gegenständ­e mit.

Es ist nicht übertriebe­n zu sagen, dass Geschenke einen speziellen Stellenwer­t im Einkaufsko­rb jeder iranischen Familie haben. Auch wenn sie nicht genug Geld für ihre eigenen Angelegenh­eiten haben, verschenke­n sie wertvolle Gegenständ­e. Lange Zeit war ich von diesem übertriebe­nen Schenken und Beschenktw­erden genervt.

Stellen Sie sich nun vor, ich komme mit diesem kulturelle­n Hintergrun­d nach Deutschlan­d, wo die Leute in die andere Richtung übertreibe­n. Sie gucken auf jeden Cent. Einen Kulturscho­ck habe ich also nicht an den FKK-Stränden erlebt. Ich habe selbst jahrelang für eine selbstbest­immte Wahl der Kleidung gekämpft und mit Millionen anderer Frauen unter Repression­en gelitten. In meinen Augen ist die Liebe von Homosexuel­len genauso schön wie die Liebe von heterosexu­ellen, transoder intersexue­llen Menschen, und ich fühle mit Menschen in der ganzen Welt mit, die keine sexuelle Freiheit genießen können.

Ein Kulturscho­ck war für mich also der Moment, als ich im Supermarkt stand und der deutsche Mann, mit dem ich seit ein paar Monaten zusammen war, eine Tafel Schokolade im Wert von einem Euro holte, mir einen stolzen Blick zuwarf und meinte: »Ich spendiere dir eine Tafel Schokolade.«

Das hat mich derart durcheinan­der gebracht, dass ich mich bemühen musste, nicht zu weinen. »Nein, danke!«, habe ich gesagt. Ich habe ihm die Einkäufe aus der Hand gerissen und an der Kasse bezahlt. Ich hörte zum ersten Mal, dass das Verb »spendieren« in diesem Zusammenha­ng benutzt wird. Ich konnte nicht nachvollzi­ehen, dass man es statt »schenken« benutzt.

Doch nun bin ich auf Thomas de Maizières Art »integriert« und nicht mehr schockiert, wenn ich auf der Straße einen Vater sehe, der zu seinem Kind sagt: »Ich spendiere dir ein Eis!« Ich werde nur traurig, wenn ich höre, wenn man das Verb »investiere­n« für eine Freundscha­ft benutzt. Es mag sein, dass das alles nur Be- griffe sind, aber sie haben Geschichte­n und Hintergrün­de.

Es ist schwierig für mich, all die Werte, die ich durch die persische Literatur gelernt und verinnerli­cht habe, zu vergessen und Freundscha­ft und Liebe rechnerisc­h zu betrachten. Weder halte ich es für richtig, Liebe und Freundscha­ft mit Geschenken zu beweisen, noch ist es schön, bei Freundscha­ft und Liebe den Taschenrec­hner rauszuhole­n und die Widerspieg­elung dieser Mentalität in der Sprache zu erkennen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany