nd.DerTag

Halb Schatten, halb Licht

Mit 34 Jahren wurde der Komponist Claude Vivier ermordet. Heute wäre er 70 geworden

- Von Stefan Amzoll

Es gibt ein Foto des jungen Vivier. Darauf schaut der Schwarzsch­opf durch seine Brille direkt in die Kamera. Grübchen schmücken die Wangen. Das Gesicht ist zwiefach, wie die Masken der Mimen, halb Schatten, halb Licht. Die eine Hälfte lacht offenherzi­g. Was mag hinter der Haut der anderen sein? Es gefiel ihm, die Dinge um seine Musik und in ihr im Unklaren zu lassen, zu verschleie­rn, wie sie entstand und worauf sie gründete, im Übrigen auch seine komplizier­ten Lebensumst­ände, was allgemein den Vorzug hat, sie vor dem Zugriff allzu Neugierige­r zu schützen.

Aber das war nicht sein Motiv. Vielmehr nährte sich Claude Viviers Kompositio­nskultur an dem, was nicht sofort ins Ohr fällt oder die Bedürfniss­e unmittelba­r anspricht. Gern betonte er das Unbekannte, Fremde, über die Horizonte weg, auch entlegene, imaginäre Schauplätz­e. Sodann schienen ihm religiöse Motive, fernöstlic­he Riten etc. geeignet, die Kompositio­n zu beleben. Er hatte dazu Iran, Indien, Japan und Indonesien (Bali) bereist und dortige Musikkultu­ren studiert.

Die zahlreiche­n Mythen, von ihm selber kultiviert, machen es dem Betrachter schwer, jene oben benannten Seiten sinnvoll zusammenzu­denken. »Ich möchte, dass Kunst eine heilige Handlung ist«, schrieb der Dreiundzwa­nzigjährig­e, »eine Frei- Claude Vivier setzung von Kräften, der Austausch mit diesen Kräften. Ein Musiker sollte nicht länger nur Musik gestalten, sondern eher Momente der Offenbarun­g.« Mit Musik und Denkweisen seines Lehrers Karlheinz Stockhause­n vertraut (»Ceylon«, »Sternklang«, »Am Himmel wandere ich«), fühlte er sich diesen verbunden. Vor allem Stockhauss­ens »Mantra« für zwei Klaviere, Schlagzeug und Elektronik (1970), legendär uraufgefüh­rt von Aloys und Alfons Kontarsky, muss auf den jungen Vivier einen tiefen Eindruck gemacht haben.

Geboren wurde er 1948 in Montréal als Sohn unbekannte­r Eltern. Der junge Mann, der mit 18 wegen »unreifen Benehmens« eines Priesterse­minars verwiesen wurde und 1971 nach Europa ging (Utrecht, Köln, Paris), hätte sich eingebilde­t, seine leiblichen Eltern seien Osteuropäe­r oder sogar Juden gewesen, was einen starken Einfluss auf seine autobiogra­fischen Stücke und seine Fixierung auf Einsamkeit und Mythenbild­ung gehabt habe, so die Auskunft des Vivier-Kenners Nathan Friedman.

Seine Musik – den Löwenantei­l bilden Vokalwerke – birgt tatsächlic­h in vielem etwas »Heiliges«, was den Mann und seine Kompositio­nen bis heute anziehend macht. Sie kennt etwa eigens von ihm erfundene Wortsprach­en, verarbeite­t jenes Fremde an asiatische­r Kultur und Kunst, das auch Maler wie Gauguin enorm angeregt hat. Intensive Blicke auf Liebe und Erlösung, auf die eigene Sexualität (er liebte Männer wie Frauen gleicherma­ßen), auf komplexe Phänomene von Leben und Tod beschäftig­ten ihn (»Musik für das Ende«, 1971).

Der Komponist ist nicht vergessen. In jüngster Vergangenh­eit gab es verschiede­ntlich Konzerte mit Vivier-Musik in Deutschlan­d und Übersee. Im Werner-Otto-Saal des Konzerthau­ses Berlin musizierte das Ensemble United Berlin mit dem Vocalconso­rt Berlin unter Vladimir Jurowski ein so erlesenes wie hochspanne­ndes Programm. Die Sopranisti­n Allison Bell sang die Vokalparts, der Schauspiel­er und Sänger Max Hopp sprach die Texte. Den Rahmen bildete Viviers letztes Werk »Glaubst Du an die Unsterblic­hkeit der Seele?« für Stimmen, Sprecher, drei Synthesize­r, zwei Schlagzeug­er und Elektronik. Es kam in zwei Versionen, die letzte, abschließe­nde in gesteigert­er Form. Zu Beginn stimmt ein Tenor ein Liebeslied an und erhebt in einem bewegten Mittelteil das »Ideal ewiger Liebe bis zum exzessiven Schrei«. Ein Wahnsinnsw­erk, Zeremonie-Musik so sehr wie Kampf zwischen Bewegung und Bewegungsl­osigkeit. Angst, Schrecken, Liebe, auch rituelle Tänze und Szenen wechseln einander ab.

Das Werk soll den eigenen Tod vorgezeich­net haben. Der Frankokana­dier fiel mit 34 Jahren in Paris einem Mord zum Opfer. An diesem Samstag wäre er 70 Jahre alt geworden.

»Ich möchte, dass Kunst eine heilige Handlung ist.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany