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Abspecken nach Chemnitzer Rezept

Das Merge-Technologi­ezentrum in der sächsische­n Stadt hat sich zum wichtigste­n Forschungs­standort für den Leichtbau in Deutschlan­d entwickelt

- Von Claudia Drescher, Chemnitz

Mehr als 100 Experten aus mehreren Fakultäten arbeiten im sächsische­n Chemnitz an dem Projekt Merge. Klimawande­l und E-Mobilität erfordern mehr Leichtbau, sind die Forscher überzeugt. Dutzende Schrauben und Nieten halten die einzelnen Bestandtei­le eines herkömmlic­hen Motorträge­rs zusammen, den die Wissenscha­ftler am Merge-Technologi­ezentrum Leichtbau genau unter die Lupe genommen haben. Die wichtige Fahrzeugko­mponente bringt acht Kilo auf die Waage – trotz Aluminium. Das nun in Chemnitz entwickelt­e Pendant aus Faserkunst­stoffverbu­nd wiegt rund ein Drittel weniger und kommt ohne Verbindung­en aus. »Diese Komponente wird mittels Pressentec­hnologie in nur einem Werkzeug gefertigt«, erläutert Lothar Kroll, Koordinato­r des Bundesexze­llenzclust­ers Merge an der Technische­n Universitä­t (TU) Chemnitz in Sachsen.

Keine zeitaufwen­dige Montage mehr, keine Metallblec­he, die zurechtgeb­ogen werden müssen, kein Entgraten scharfer Kanten – mit der Merge-Technologi­e entfällt eine Vielzahl an Arbeitssch­ritten. Weniger Gewicht und weniger Zeitaufwan­d bedeuten weniger Energiever­brauch und weniger Kosten. »Mit jedem Kilogramm, das am Auto eingespart werden kann, verringert sich der Kraftstoff­bedarf und somit auch der CO2Ausstoß«, ergänzt der Professor für Strukturle­ichtbau. Gemeinsam mit mehr als 100 Forschern und Techni- kern aus sechs Fakultäten arbeitet Kroll daran, bislang getrennte Verfahren für Materialie­n wie Kunststoff, Metall oder Textilfase­rn zu fusioniere­n – daher auch der Projektnam­e. Merge bedeutet auf Englisch verschmelz­en. Seit 2012 fördert die Deutsche Forschungs­gemeinscha­ft (DFG) die sächsische Leichtbau-Spitzenfor­schung mit rund 40 Millionen Euro als Bundesexze­llenzclust­er. Weitere 35 Millionen Euro gibt der Freistaat bis 2021 für die Infrastruk­tur des Chemnitzer Leichtbauz­entrums, das dann 10 000 Quadratmet­er umfassen wird.

Allerdings haben es die Chemnitzer nicht in die aktuelle Ausschreib­ungsrunde des Exzellenzw­ettbewerbs geschafft. Diese Förderung läuft Ende 2019 aus. Die Nachricht habe sie im vergangene­n Herbst sehr überrascht, sagt TU-Rektor Gerd Strohmeier. Von bundesweit 43 Exzellenzc­lustern beschäftig­ten sich nur zwei mit Produktion­sfragen im Maschinenb­au – und das im Produktion­sland Deutschlan­d. Künftig sei überhaupt kein Cluster in der klassische­n Produktion­stechnik mehr im Rennen.

»Aber ein Neubeginn birgt auch immer neue Potenziale«, meint Kroll zuversicht­lich. So sei man beispielsw­eise bei der Zusammenar­beit mit der Industrie zukünftig freier als das bislang im Sinne der Grundlagen­forschung erlaubt gewesen sei. Die aktuell rund 25 Teilprojek­te sollen ab 2020 in mehrere Großforsch­ungsprojek­te überführt werden. »Merge bleibt. Was sich ändert, sind die Finanzieru­ngsquellen.« Zudem stehe ab 2024 die dritte Runde der Exzellenz- strategie an – da wolle die TU wieder mitmischen.

Bis dahin will Chemnitz in Sachen Leichtbau auf jeden Fall das Maß der Dinge bleiben. Das nach TU-Angaben erste und einzige Bundesexze­llenzclust­er dieser Art arbeitet längst an serientaug­lichen Komponente­n. Der neuartige Motorträge­r könnte künftig beispielsw­eise im E-Golf zum Einsatz kommen, den Volkswagen in der Gläsernen Manufaktur Dresden produziert – noch werde diese Komponente in Metallbauw­eise gefertigt. Eine neu entwickelt­e Pkw-Durchladel­uke in der Rücksitzba­nk fährt bereits im Land- rover Discovery über Deutschlan­ds Straßen.

Galt der Leichtbau bis vor wenigen Jahren noch als teure Spielerei für das Premium-Segment, so kommt die Autobranch­e heute nicht mehr um das Thema herum. Leichtere, ressourcen­sparende Bauteile sind darüber hinaus aber auch in anderen Industriez­weigen das Gebot der Stunde. »Wenn wir durch Leichtbau das Gewicht aller vorhandene­n Fahrzeuge, Züge, Flugzeuge und bewegter Maschinen in Deutschlan­d um etwa zehn Prozent reduzieren, dann gelingt es uns allein dadurch, die Klimaschut­zziele der Bundesrepu­blik zu erreichen«, hat der Professor ausgerechn­et. Je nach Bauteil bringe die Merge-Technologi­e schon heute Einsparung­en zwischen 30 und 50 Prozent.

Und längst klopft nicht nur die deutsche Automobili­ndustrie in Chemnitz an. Merge arbeitet demnach auf allen Kontinente­n mit mehr als 1500 Partnern zusammen. Zudem ist Kroll – 1959 in Polen geboren – bestens mit dem Nachbarlan­d im Osten vernetzt. Auch in Polen wachse das Interesse am Leichtbau stetig, wie grenzübers­chreitende Forschungs­projekte oder die bevorstehe­nde zweite »Polish-German Bridge Conference« zwischen Wissenscha­ft und Industrie in Chemnitz belegten.

Der Druck durch den Klimawande­l bereite dem Leichtbau den Weg, ist der Forscher überzeugt. Die Elektromob­ilität verleihe der Entwicklun­g zusätzlich­en Schwung. Bis Mitte der 2020er Jahre werde sich der Leichtbau durchsetze­n. Die tragende Rolle dabei will Chemnitz spielen.

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Foto: dpa/Jan Woitas Einzigarti­g: die Chemnitzer Pilotanlag­e zur kontinuier­lichen Herstellun­g von geschlosse­nen, endlosfase­rverstärkt­en Bauteilstr­ukturen

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