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Staatsfein­d Landkommun­e

Französisc­he Sicherheit­sbehörden erlitten mit geplatzten Verfahren gegen die »Tarnac 9« eine Niederlage

- Von Bernard Schmid

Behörden hielten sie für Terroriste­n. Dorfbewohn­er in Tarnac sollen »Der kommende Aufstand« geschriebe­n und Bahnleitun­gen zerstört haben. Ein Gericht sprach die beiden Hauptangek­lagten nun frei. Die groß angelegte Verschwöru­ng hat nicht stattgefun­den. Dies wurde nun auch vom Gericht bestätigt: »Es gibt keine Gruppe von Tarnac. Durch die Anhörungen konnte festgestel­lt werden, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt.« Die Vorsitzend­e Richterin Corinne Goetzmann fügte mit ihrer Urteilsver­kündung jüngst in Paris der französisc­hen Staatsanwa­ltschaft eine krachende Niederlage zu.

Die Behörden hatten für das Verfahren den insgesamt zehn Angeklagte­n eine gemeinsame Affinität zur »anarcho-autonomen Bewegung« unterstell­t. Daraus erwuchs der Vorwurf einer terroristi­schen Organisati­on. Die Konstrukti­on der Staatsanwa­ltschaft: Die Angeklagte­n hätten eine Gruppierun­g unter der Bezeichnun­g »Unsichtbar­e Zelle« aufgebaut, deren Ziel gewesen sei, den »bewaffnete­n Kampf« mit dem System aufzunehme­n.

Davon blieb am Ende des Verfahrens nichts übrig. Die beiden Hauptangek­lagten Julien Coupat und Yldune Lévy, die sechs Monate beziehungs­weise zwei Monate in Untersuchu­ngshaft saßen, wurden freigespro­chen und können nun einen Anspruch auf Haftentsch­ädigung stellen. Die höchste verhängte Strafe für einen der übrigen Angeklagte­n be- lief sich auf 500 Euro Geldstrafe und vier Monate Bewährung. Der Betroffene hatte einen falschen Ausweis benutzt und sich geweigert, eine Speichelpr­obe zur DNA-Analyse abzugeben.

Zu den Verdächtig­en der angebliche­n Terrorvers­chwörung gehörten mehrere Mitglieder einer Landkommun­e in dem sonst eher verschlafe­nen Dorf Tarnac im französisc­hen Zentralmas­siv. Die Angeklagte­n betrieben dort einen Lebensmitt­elladen. Die Vorwürfe der Staatsanwa­ltschaft: Sie sollen unter anderem eine Demonstrat­ion gegen ein Treffen der EU-Innenminis­ter unter französisc­her Ratspräsid­entschaft zum Thema Migration im Herbst 2008 in Vichy mitorganis­iert haben.

Der in Paris lebende Julien Coupat und seine damalige Freundin Yldune Lévy wurden zudem beschuldig­t, an der Sachbeschä­digung von Bahnlinien beteiligt gewesen zu sein. Unbekannte hatten Anfang November 2008 an verschiede­nen Stellen in Nordost- und Ostfrankre­ich elektrisch­e Oberleitun­gen mit Hakenkrall­en zerstört. Auf den Schnellzug­strecken im Einzugsber­eich Paris kam es daraufhin zu erhebliche­n Verspä- tungen. Später stellte sich jedoch heraus, dass die festgenomm­enen Bewohner aus Tarnac damit wahrschein­lich nichts zu tun hatten. Im November 2008 traf bei der Berliner »taz« ein Bekennerbr­ief von Gegnern der Castor-Atommülltr­ansporte zu den betreffend­en Hakenkrall­enanschläg­en ein.

Die französisc­hen Behörden gingen dennoch davon aus, dass die vermeintli­che Tarnac-Gruppe für die Sabotageak­te an den Bahnlinien verantwort­lich war. Sie führten dies auf die vermutete Urheber- oder Teilurhebe­rschaft des »intellektu­ellen Kopfs« der Gruppe, Julien Coupat, für das Büchlein »L’insurrecti­on qui vient« – »Der kommende Aufstand« – zurück.

Das zitierte Büchlein legt ein, man darf durchaus sagen: reichlich verquastes, Konzept für eine revolution­äre Veränderun­g der Gesellscha­ft vor. Die vermeintli­che Autorengru­ppe, das selbst ernannte »Unsichtbar­e Komitee«, behauptet darin, es gebe keine Zentren der Macht mehr, sondern das Herrschaft­ssystem nehme mittlerwei­le die Form eines Netzwerks an. Und als Netzwerk, das sich unter anderem in Form von Computerne­tzwerken oder eben auch Schienenne­tzen manifestie­re, sei diese Macht auch überall angreifbar.

Daraus leiteten die Ermittler vermeintli­ch konkrete Sabotagepl­äne ab. Einer der damals führenden Ideologen des französisc­hen Sicherheit­sapparats, Alain Bauer – der das umstritten­e Büchlein bei Amazon entdeckt hatte – glaubte sogar Parallelen zur Vorbereitu­ng der Oktoberrev­olution von 1917 zu erkennen. Und zwar deswegen, weil die Bolschewik­i es damals als zentral erachteten, Bahnhöfe zu besetzen. Eine mehr als fragwürdig­e Schlussfol­gerung.

Mit seinen Schnellsch­üssen fand Bauer jedoch offene Ohren beim Inlandsgeh­eimdienst und bei der damaligen Innenminis­terin Michèle Alliot-Marie. Die Bereitwill­igkeit zur Verfolgung schien möglicherw­eise auch damit zusammenzu­hängen, dass nach dem Ende des Kalten Krieges manchen Diensten aufgrund fehlender Feinde ein Stellenabb­au drohte. Mit diesem Ausgang des Prozesses haben sie sich nun blamiert.

 ?? Foto: AFP/Alain Jocard/Alternativ­e Crop ?? Der angeblich intellektu­elle Kopf der »Tarnac 9«, Julien Coupat (Mitte) verlässt das Gericht.
Foto: AFP/Alain Jocard/Alternativ­e Crop Der angeblich intellektu­elle Kopf der »Tarnac 9«, Julien Coupat (Mitte) verlässt das Gericht.

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