Brandgeruch und Feiern
Die brennenden Reifen an der Grenze Gazas zu Israel sind folgenschwer – auch für viele unbeteiligte Palästinenser
Tage des Zorns in Gaza und laute Feste in Israel.
An drei Freitagen haben Zehntausende Palästinenser im Gaza-Streifen anlässlich des Jahrestages der israelischen Staatsgründung protestiert. Aber die Aktionen schädigen auch die eigenen Leute. Wie ein Teppich hat sich ein schwarzer, schmieriger Film über die Felder gelegt; mittendrin eine Familie, Großeltern, Eltern, Kinder, bestimmt 15 Leute, die durch die schwarzen Pflanzen stapfen. Ein Kind zeigt auf eine gerade noch grüne Pflanze: »Ist die noch gut?«, ruft der Junge seinem Großvater Mahmud zu. »Hier ist nichts mehr gut«, sagt der 82-Jährige und hebt wütend die Hände: »Die Felder sind hinüber.« Sein Leben lang haben er und seine Familie hier, am nordöstlichen Rand des Gazastreifens, nur wenige Hundert Meter von der Grenze zu Israel entfernt, Obst, Gemüse, Getreide angebaut: »Viel ist dabei nicht rumgekommen«, sagt Mahmud, »aber es hat selbst dann zum Leben gereicht, als wir Krieg hatten, die Grenze zugemacht wurde. Essen müssen die Leute immer.«
Doch nun ist die Existenz der Familie zerstört, »und was mich dabei den Rest meines Lebens begleiten wird, ist, dass es unsere eigenen Leute waren, die dafür verantwortlich sind.«
So viele Reifen verbrennen, dass die ganze Welt den Qualm sieht
Seit drei Wochen ruft die Hamas dazu auf, freitags am streng bewachten Grenzzaun zu demonstrieren. »Märsche der Rückkehr« werden diese Aktionen offiziell genannt; anlässlich des 70. Jahrestages der Staatsgründung Israels sollen sie an Flucht und Vertreibung erinnern. Und um »ein besonderes Signal« zu setzen, so Yahya Sinwar, Chef der Hamas-Regierung in Gaza, hat man sich ausgedacht, dass die Demonstranten dabei Reifen verbrennen sollen, »viele Reifen, 10 000 Reifen, so viel Qualm, dass man ihn auf der ganzen Welt sieht«, so Tawfik Abu Naim, Sicherheitschef der Hamas am ersten Protesttag. Gut 30 000 Menschen waren damals gekommen; einige hatten versucht, den Grenzzaun zu überwinden. Das israelische Militär feuerte scharf, tötete je nach Quelle 14 bis 16 Palästinenser. Die Hamas feierte einen PR-Sieg; Israel habe sein »wahres Gesicht« gezeigt, so Sinwar.
Doch nun, drei Wochen und zwei weitere Protesttage später, sehen Großvater Mahmud und seine Familie etwas ganz anderes: Ein kurzer Regenguss hat den Ruß der verbrannten Reifen auf die Felder gewaschen, wahrscheinlich auch ins Grundwasser und damit in die beiden Ressourcen, die im übervölkerten Gazastreifen am dringendsten gebraucht werden: Nahrungsmittel und Wasser.
Die Hamas besteht auf ihrem Machtanspruch im Gazastreifen »Die Hamas hat uns Normalmenschen aus den Augen verloren«, sagt Mahmud, der von sich behauptet, dass er und seine Familie immer hinter der Organisation standen, seit sie zu Beginn der ersten Intifada 1987 gegründet worden war. »Heute frage ich mich, was in den Köpfen der Leute vorgeht.«
Meinungen wie diese hört man in diesen Tagen oft im Gazastreifen, nachdem man versprochen hat, keine Namen zu nennen, denn in der Denkweise der Hamas und ihrer Brigaden sind Kritiker Kollaborateure. »Diese Leute wollen den Widerstand von innen schwächen«, sagt ein Sprecher der Hamas-Regierung. »Widerstand«, das ist in der Sprache der Hamas sie selbst, und der Kampf gegen Israel die eine Sache, mit der die Organisation ihren Machtanspruch im Gazastreifen begründet.
Lange Zeit funktionierte das: Die Hamas hatte, dank finanzieller Unterstützung aus dem Ausland, genug Geld, um eine einigermaßen geordnete Infrastruktur am Laufen zu halten, und wenn mal was nicht funktionierte, dann wetterten die HamasFunktionäre gegen Israel und die USA.
»Die Sicht auf das Geschehen ist extrem verengt, wenn man sein Leben im Gazastreifen verbringen muss«, sagt der studierte Soziologe Khaled Khalili, 34, der es vor drei Jahren durch Zufall über die Grenze geschafft hat, heute in Kairo lebt und dort als Barkeeper in einem Café arbeitet. »Man sieht, dass der Wiederaufbau nicht vorangeht, dass der Strom ständig ausfällt, dass es keine Arbeit gibt, und man schiebt Israel und der offiziellen palästinensischen Regierung in Ramallah die Schuld daran zu und jubelt, wenn die Hamas Raketen abfeuert. Die Leute glauben der Hamas-Regierung, wenn sie behauptet, dass sie sich bemüht, alles besser zu machen, aber leider, leider Israel und die USA alles blo- ckieren und Präsident Mahmud Abbas dabei hilft.«
Doch schon seit dem vergangenen Jahr ist zu beobachten, wie die Kritik an der Hamas zunimmt. Während Sinwar gegen Israel und die Ramallah-Regierung wettert, klagen die Menschen über höhere Steuern, die Korruption, die seit dem Krieg 2014 massiv zugenommen hat. »Es kann nicht sein, dass Baumaterial und Hilfsgüter zuerst an Leute von der Hamas verteilt werden«, sagt eine junge Frau, die in einem Laden zwei Früchte für ihre drei Kinder gekauft hat. Ihr Mann habe glücklicherweise einen Job in einem Krankenhaus, erhalte aber schon seit Monaten nur 25 Prozent des Lohns. »Deshalb können wir uns nur höchstens einmal die Woche ein paar Stücke Obst leisten.«
Alles ist in Ordnung – aber nur auf dem Papier
Eine ausgewogene Ernährung sei derzeit in Gaza »wie ein Blick in eine andere Welt«, sagt der Internist Dr. Hassan Schubaki vom Schifa-Hospital in Gaza; ein großer Teil der Bevölkerung könne den Nährstoffbedarf nicht decken: »Bald werden wir nicht mehr nur das Armenhaus, sondern auch das Krankenhaus des Nahen Ostens sein.« Denn die Spätfolgen von schlechtem Essen, hoher Luftverschmutzung, einem Leben ohne Perspektive seien absehbar.
Dabei ist auf dem Papier eigentlich alles in Ordnung: Hunderte Lastwagen führen Tag für Tag Tausende Tonnen an Lebensmitteln, Baumaterial, Hilfsgütern in den Gazastreifen ein. »Eigentlich sollte es reichen, um die Menschen wenigstens angemessen zu ernähren und auch eine akzeptable Wohnsituation für alle zu erreichen«, sagt ein Sprecher des UNO-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge.
Und dennoch: Trotz eines komplizierten Verteilungsmechanismus vor allem für Baumaterial, den Israel und die Vereinten Nationen vor Jahren vereinbart haben, verschwindet viel und landet noch mehr auf dem Schwarzen Markt, wird so gut wie alles am Ende zu horrenden Preisen verkauft.
Hinter vorgehaltener Hand erzählen die Menschen indes immer neue Theorien dazu, wie das alles passieren kann: Man nimmt erstaunt zur Kenntnis, wie die Angehörigen der vielen, oft miteinander konkurrierenden Kampfgruppen immer Geld, Wohnung, ausreichend zu essen ha- ben, und man vermutet, dass die Hamas-Regierung Geld abzweigt, um sich das Wohlwollen dieser Gruppen zu erkaufen. Denn neben den Kassam-Brigaden, dem militärischen Flügel der Hamas, gibt es in Gaza eine Vielzahl von kleinen und großen Kampfgruppen, die oft sehr viel radikaler sind und keinen Zweifel daran lassen, dass sie sich für die wahren Machthaber halten: Ohne Scheu zeigen sich auf den Straßen vermummte Kämpfer des Islamischen Dschihads; in den Moscheen wirbt ein Ableger des Islamischen Staats um Unterstützung. Ob die Vermutungen stimmen, lässt sich nicht sagen. Doch der Effekt in der Öffentlichkeit ist eindeutig.
Mit den »Märschen der Rückkehr« hatte die Hamas, das geben ihre Sprecher offen zu, vor allem den Beweis erbringen wollen, dass die Bevölkerung hinter ihr stehe. Doch stattdessen sind die Proteste nun zum Zeichen dafür geworden, wie wenig die Menschen der Hamas noch glauben. Denn schon vor dem ersten Protest, als Lastwagen an der Grenze Berge von Reifen aufschütteten, hatten nicht nur israelische, sondern auch palästinensische, saudische und ira- nische Wissenschaftler davor gewarnt, die Reifen zu verbrennen. Und tatsächlich mussten nach Angaben des Roten Halbmondes nach dem ersten Protest neben den Opfern der Schüsse von israelischen Soldaten auch mehr als 500 Personen mit Erkrankungen der Atemwege behandelt werden.
Stattdessen legte die Hamas beim nächsten Protest noch mal nach, ließ gleich mehrere Tausend Reifen auf einmal anzünden; gleichzeitig begann im Fernsehen und Radio der Hamas eine »Informationskampagne«: Täglich werden »Experten« vernom- men, von denen niemand jemals vorher etwas gehört hat, um zu erklären, dass keine Gesundheitsschäden drohen; den schwarzen Schleim solle man einfach abwaschen. Doch in der Öffentlichkeit glaubt man lieber den Sendern aus dem arabischen Ausland; bereits beim zweiten Protest waren es vor allem Jugendliche auf der Gehaltsliste der Kassam-Brigaden, die an der Grenze aufmarschierten.
»Wenn sie mich bei Kassam aufnehmen – das wäre die Rettung « Einer von ihnen war Mohammed, 19, der sich nun in einem Friseurladen die Haare schneiden lässt – militärisch kurz, denn in den kommenden Tagen sei er zum Gespräch bei den Kassam-Brigaden geladen; er hoffe auf eine »Karriere beim Militär«.
Die Hamas-Brigaden, die selbst nach Lesart der Hamas-Regierung in keine staatliche oder de facto staatliche Struktur eingebettet sind, sehen sich wie selbstverständlich als offizielle Armee. Natürlich mache auch er sich Sorgen, sagt er: »Jedes Kind kann sich denken, dass das gefährlich ist.«
Doch während des Krieges 2014 wurde das Haus seiner Familie schwer beschädigt; sein Vater hatte schon Monate zuvor die Arbeit verloren, Mohammed selbst konnte nicht einmal einen Handlanger-Job finden. »Wir haben gehungert,« sagt Mohammed, »im Winter haben wir gefroren. Wenn mich die Brigaden aufnehmen, dann ist das unsere Rettung.« Und auch mit dem Kampf gegen Israel kann er sich anfreunden; dass die Brigaden monatliche Zahlungen von umgerechnet 350 Euro in Aussicht stellen, tut sein Übriges.
Doch die Kassam-Brigaden haben Schwierigkeiten; seit einigen Wochen werben sie erstmals offen um neue Kämpfer. Denn der Unmut über das Verhalten der Hamas hat nicht etwa dazu geführt, dass die Menschen sich hinter die Bemühungen der Ramallah-Regierung von der Fatah stellen, die Kontrolle über den Gazastreifen zurückzugewinnen. Zuspruch verspüren vor allem der Islamische Dschihad und kleinere Milizen, die die brennenden Reifen nun dazu nutzen, um sich als den »wahren Widerstand«, so ein am Wochenende verteiltes Flugblatt des islamischen Dschihads, darzustellen.
Großvater Mohammed auf seinem schwarzen Feld will indes niemanden mehr unterstützen: »Wir brauchen erst einmal einen Plan, wie es weiter gehen soll. Wir brauchen Ideen.«