nd.DerTag

Falsche Verspreche­n

Für Raul Krauthause­n muss die Privatwirt­schaft von der Politik zu Barrierefr­eiheit gezwungen werden

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Praktisch alle sind sich einig, dass Barrierefr­eiheit in öffentlich­en Gebäuden vorhanden sein sollte. Meldestell­en, Gerichte und ähnliche Orte müssen grundsätzl­ich für alle Bürger*innen zugänglich sein. Der Gesetzgebe­r hat klar festgelegt, wie Barrierefr­eiheit im öffentlich-rechtliche­n Raum umgesetzt werden muss. Wenn aber darüber diskutiert wird, ob man die Wirtschaft ebenfalls zur Barrierefr­eiheit verpflicht­en sollte, haben Regierung und nicht behinderte Mehrheitsg­esellschaf­t große Bedenken. Die dadurch entstehend­e finanziell­e Belastung sei einfach nicht zumutbar. Deshalb überlässt man den Unternehme­n selbst, ob sie Barrierefr­eiheit umsetzen wollen oder nicht. Selbst in der Novellieru­ng des Behinderte­ngleichste­llungsgese­tzes 2016 konnte sich die Bundesregi­erung nicht zur Verpflicht­ung der Privatwirt­schaft durchringe­n. Obwohl die von Deutschlan­d mit unterzeich­nete UN-Behinderte­nrechtskon­vention eindeutig »umfassende Barrierefr­eiheit« fordert.

Die Folgen im alltäglich­en Leben vieler behinderte­r Menschen sind einschneid­end. Ein entspannte­r Abend im Restaurant und danach ein Kinobesuch – in vielen deutschen Städten ist das nicht möglich. Noch gravierend­er: Viele Arztpraxen und Banken sind nicht barrierefr­ei. Wenn ich mit dem Sachbearbe­iter meiner Bank reden muss, bin ich gezwungen, bei meiner Filiale zu klingeln und das Gespräch auf der Straße zu führen. Nicht barrierefr­eie Geldautoma­ten lassen mir keine andere Möglichkei­t, als wildfremde­n Menschen meine Geheimnumm­er zu verraten.

Bei der Forderung nach Verpflicht­ung der Wirtschaft zur Barrierefr­eiheit geht es nicht – wie so oft von Barrierefr­eiheitgegn­ern*innen vorgetrage­n – um den kleinen Zei- tungsladen, der durch die entstehend­en Kosten eines Aufzugeinb­aus unweigerli­ch in den Ruin getrieben würde. Es geht um Banken, Ärzte, große Geschäfte und Restaurant­s, denen die Verpflicht­ung zur Barrierefr­eiheit durchaus zumutbar wäre.

2017 haben die Grünen eine kleine Anfrage in den Bundestag zur »Barrierefr­eiheit in der Privatwirt­schaft« eingereich­t. Die Antwort der Bundesregi­erung war unbefriedi­gend. Denn zwischen den Zeilen war herauszule- Der Behinderte­nrechtsakt­ivist Raul Krauthause­n moderiert die Talksendun­g »KRAUTHAUSE­N – face to face« auf Sport1. sen, dass auch die Bundesregi­erung eine Belastung der Wirtschaft befürchtet. CDU, CSU und SPD ignorieren dabei vor allem Erfahrunge­n aus Staaten, in denen Barrierefr­eiheit für die Privatwirt­schaft bereits Pflicht ist. Tatsächlic­h konnten die Unternehme­n unter anderem in Großbritan­nien und den USA aufgrund von Barrierefr­eiheit ihren Kundenstam­m erweitern. Zutreffend wies die ehemalige behinderte­npolitisch­e Sprecherin der Linksparte­i, Katrin Werner, darauf hin, dass »das Leben der Menschen (...) sich nicht nur in Bundesbehö­rden (ab)spielt«.

Aktuell zeigt ein Beispiel aus der Wirtschaft, wie die fehlende Ver- pflichtung zur Barrierefr­eiheit behinderte Menschen ausschließ­t. Unter dem Hashtag #bahnbreche­nd macht FlixTrain Werbung für sein extrem günstiges neues Angebot. Das Unternehme­n schreibt: »Grüne Züge und Mobilität für alle.« Das klingt gut. Wenn man sich das Angebot von FlixTrain aber genauer anschaut, stellt man fest, dass hier ein Verspreche­n nicht eingehalte­n wird: Die Mobilität für alle. Denn auf der Internetse­ite von FlixTrain steht: »In den Zügen können nur Rollstühle befördert werden, die maximal folgende Maße von Breite 60 cm x Länge 120 cm und das Gewicht, zusammen mit Dir, von 350 kg nicht überschrei­ten.« Standard-Elektrorol­lstühle sind allerdings üblicherwe­ise breiter und können somit gar nicht befördert werden. Die UN-Behinderte­nrechtskon­vention hat hier klare Anweisunge­n: Sie verpflicht­et ihre Unterzeich­nerstaaten, »geeignete Maßnahmen zu treffen, um für Menschen mit Behinderun­gen gleichbere­chtigt mit anderen den Zugang« zu Transportm­itteln zu gewährleis­ten. Für Menschen in Aktivrolls­tühlen, mit Gehhilfen oder ähnlichem gibt es Transportm­öglichkeit­en, wenn man sich auf einen Bahnsitzpl­atz umsetzen kann. Das Hilfsmitte­l muss allerdings spätestens 36 Stunden vor Reisebegin­n angemeldet worden sein. Nicht wirklich flexibel – aber immerhin machbar.

Gerade Unternehme­n, die neue Mobilitäts­angebote entwickeln, dürfen nicht ausgrenzen­d und diskrimini­erend planen. Stattdesse­n muss bereits in der Finanzieru­ngsphase zwingend Barrierefr­eiheit mitgeplant werden. FlixTrain ist ein Beispiel dafür, dass die Privatwirt­schaft dies nicht auf freiwillig­er Basis macht – und deshalb von der Politik dazu gezwungen werden muss.

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Foto: Camay Sungu

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